
Das Buch Wozu Liberalismus? lädt dazu ein, darüber nachzudenken, was liberale Demokratie ausmacht, wodurch sie in die Krise geraten ist und welche Perspektiven sie hat. Woran krankt ein demokratischer Republikanismus, wie er sich aus dem 18. Jahrhundert bis ins 21. hinübergerettet hat, um nun an seinen oftmals altbekannten Schwächen zu scheitern? Was muss das Fundament einer Demokratie heute bilden? Brauchen wir dafür noch Liberalismus und wenn ja, wozu?
„Der Liberalismus erhebt den Realismus zum Ideal, indem er egoistischer Interessenverfolgung eine segenbringende Wirkung attestiert, sie auf diese Weise von den Individuen geradezu verlangt. Weil er einem Verhalten, das diese ohnehin an den Tag legen, moralische Vordringlichkeit verleiht, raubt er jedem Idealismus seine Grundlage, der Menschen dafür zu gewinnen sucht, nicht geradewegs dem Egoismus nachzugeben. Der Liberalismus lässt aber nicht einfach sämtliche moralische Ansprüche fallen, sondern projiziert sie voll und ganz auf den Staat. Ihm überträgt er die ganze Last, Freiheit, (Chancen-)Gleichheit und Eigentum zu garantieren, während Bürger und Unternehmen davon entbunden sind. In einer Demokratie arbeitet der Staat jedoch nicht unabhängig von seinen Bürgern, sondern nur in deren Sinne. Liberale Prinzipien können deshalb nur so lange Bestand haben, wie die Bevölkerung sie verficht. Da egoistische Interessenverfolgung, wie sie der Liberalismus erwartet, dafür eine Gefahr darstellt, bedürfte es einer Schizophrenie, wie sie nur wenige an den Tag zu legen vermögen: Als Gesellschaftsmitglieder müsste man ebenso sehr dem Eigennutz folgen wie als Staatsmitglied dem Gemeinwohl. Tatsächlich aber leben sehr viele Menschen im Privaten Solidarität, während einige wenige in der Politik dem Machtstreben nachgeben. Der Realismus weigert sich kontinuierlich, als Realität anzuerkennen, dass der Alltag der meisten Bürger keineswegs machiavellistischen Mechanismen folgt. Umgekehrt vermissen viele in der Politik jene Grundsätze, die ihr Zusammenleben überhaupt erst lebenswert machen. Fundamentale Demokratie nun verlangt gleichwertiges Stimmrecht für alle ohne räumliche oder zeitliche Einschränkungen. Denn Liberalismus ist nur halbierter Liberalismus, so lange Bürger politisch weniger Selbstbestimmung über ihren Teil am gemeinschaftlichen Vermögen ausüben können, wie sie es wirtschaftlich über ihr privates Vermögen tun. Demokratie wird dann zum Fundament der Gesellschaft, wenn den Menschen die Möglichkeit gegeben wird, der Politik und darüber ihrem Gemeinwesen genau so viel Idealismus angedeihen zu lassen, wie es ihnen sinnvoll erscheint.“ (S. 277f)
Heribert Nix: Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie; München: UVK 2021.
Einen interessanten Beitrag zur aktuellen Lage des Liberalismus, in den auch Passagen eines Interviews mit Heribert Nix Eingang gefunden haben, kann man auf SWR2 hören:
https://www.swr.de/swr2/wissen/der-liberalismus-politisches-modell-in-der-krise-swr2-wissen-2022-05-23-100.html