– gegengelesen –
Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 1)

Ivan Krastev sieht eine Europadämmerung heraufziehen und trifft damit offenbar einen Nerv. Galt das Projekt Europa lange als Erfolgsgeschichte mit nachhaltigem Integrationseffekt, so wirken sowohl der Erfolg als auch die Integration mittlerweile als gefährdet. Die so ordnungsliebende EU wirkt ungewohnt unaufgeräumt. Ereignisse und Strömungen unterlaufen für selbstverständlich gehaltene Spielregeln: Weder Flüchtlinge noch osteuropäische Regierungen wollen sich an Vorgaben halten und die Briten nehmen nach 45 Jahren Mitgliedschaft Abschied. Es entsteht der Eindruck, dass nach Jahren rascher Erweiterung sich de EU auf einen Wendepunkt zubewegt. Hat sie ihre Möglichkeiten überdehnt?
Noch ist das Projekt Europa nicht verloren, doch nie zuvor war die Möglichkeit des Scheiterns so präsent. Drastische Veränderungen vollziehen sich. Diese entfalten auch deshalb solche Verunsicherung, weil sie im starken Kontrast zu der lange Zeit präsenten Auffassung stehen, dass es sich bei der EU um eine Erfolgsgeschichte handelt. Über die vielen Makel der Brüsseler Bürokratie wurde auch deshalb hinweggesehen, weil das Projekt Europa über jeden Zweifel erhaben schien. Das hat sich radikal verändert und Krastev versucht sich nun an einer Einordnung jenes neuen Europas, das seine Selbstverständlichkeit als Integrationskraft verloren hat. Wie für jeden Bewohner ehemals kommunistischer Staaten erscheint ihm ein Scheitern keineswegs ausgeschlossen, schon allein deshalb, weil er den Niedergang des Kommunismus erlebt hat. Vor dem Hintergrund einer solchen Erfahrung kann kein politisches System als selbstverständlich gelten und eine Krise löst beinahe zwangsläufig ein déjà vu aus.
„Was mich fasziniert, ist die politische Macht eines ‚Déjà-vu-Denkens‘, wie ich es nennen möchte – eines Zustands, in dem man sich verfolgt fühlt von der Überzeugung, dass etwas heute Erlebtes die Wiederholung eines früheren Augenblicks oder einer früheren Episode der Geschichte sei.
In diesem Sinne ist Europa nicht nur gespalten in links und rechts, Nord und Süd, große und kleine Staaten, in solche, die mehr Europa, und solche, die weniger (oder gar kein) Europa wollen, sondern auch in jene, die Zerfall aus eigener Anschauung, und jene, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbruch des Kommunismus und den Zerfall des einstmals mächtigen kommunistischen Blocks am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignisse verschont blieben.“ (Krastev: Europadämmerung, S. 18)

Politische Großereignisse schlagen sich nicht nur als Erlebnis individuell nieder, sondern entfalten als kollektive Erfahrung eigene Wirkmächtigkeit. Es entsteht ein „konjunktive Gemeinschaft“ die einen gemeinsamen „Erfahrungszusammenhang“ teilen (Mannheim: Strukturen des Denkens, S. 219). Ein gemeinsamer Hintergrund entsteht, auf dessen Grundlage alle weiteren Geschehnisse interpretiert werden und daraus wiederum ergibt sich der Umgang mit gegenwärtigen Ereignissen. Für Westeuropa war wohl der Zweite Weltkrieg die letzte prägende kollektive Erfahrung und bis heute Referenzpunkt so vieler politischer Fragestellungen, ein Stück weit vielleicht auch die 68er-Bewegung. In Osteuropa hingegen ist es der Zusammenbruch des Kommunismus.
Ist der Umgang des Westens mit der Flüchtlingsfrage naiv?
Mitten durch Europa verläuft bis heute die Grenze, auf deren einer Seite der Kapitalismus als geradezu unerschütterliche Kontinuität erlebt wurde, die sich von all den individuellen Schicksalen, die sie hervorbringt, völlig unbeeindruckt zeigt. Auf deren anderer Seite bestand zunächst ein vermeintlich ebenso unerschütterliches politisches System, das aber plötzlich von der Bildfläche verschwand, was für alle Bürger einen massiven Einschnitt bedeutete. Der Glaube an Kontinuität und das Wissen um Zerbrechlichkeit stehen sich nun innerhalb der EU gegenüber.
„Die unterschiedlichen Erfahrungen sind letztlich verantwortlich für die äußerst unterschiedlichen Interpretationen der aktuellen europäischen Krise, ob nun aus Budapester oder aus Pariser Sicht. Osteuropäer interpretieren den Stand der Dinge aus einem Gefühl von Angst oder sogar Schrecken heraus, während Westeuropäer weiterhin glauben, alles werde schon gut werden. […] Die Erfahrung eines plötzlichen und gewaltlosen Endes von etwas, das wir für zweifellos dauerhaft hielten (bis es plötzlich nicht mehr da war), ist die prägende Erfahrung im Leben meiner Generation. Wir waren überwältigt von den Möglichkeiten, die sich unversehens auftaten, und von dem neu entdeckten Gefühl persönlicher Freiheit. Aber wir waren auch ergriffen von dem neu entdeckten Gefühl der Zerbrechlichkeit aller politischen Verhältnisse.“ (Krastev: Europadämmerung, S. 19f)
Diese Diskrepanz besteht in dieser Form freilich schon seit 1990. Warum entfaltet sie erst jetzt Wirksamkeit? Krastev führt als Grund die „Flüchtlingskrise“ an. Erst mit ihr komme es zum „populistischen Aufstand“:
„In Europa ist es heute üblich, die Krise der Union entweder auf fundamentale Mängel ihrer institutionellen Architektur (zum Beispiel auf die Einführung einer Gemeinschaftswährung ohne eine gemeinsame Fiskalpolitik) oder auf ihr Demokratiedefizit zurückzuführen. Meine Analyse weicht von diesen Argumentationslinien ab. Meines Erachtens beruht die einzige Möglichkeit, mit der Gefahr eines Zerfalls umzugehen, auf der unzweideutigen Erkenntnis, dass die Flüchtlingskrise den Charakter demokratischer Politik auf nationaler Ebene dramatisch verändert hat und dass wir heute in Europa nicht bloß einen populistischen Aufstand gegen das Establishment erleben, sondern eine Rebellion der Wähler gegen die meritokratischen Eliten (am besten symbolisiert durch die hart areitenden und kompetenten Beamten in Brüssel, die dennoch den Kontakt zu den Gesellschaften verloren haben, die sie eigentlich repräsentieren und denen sie dienen sollten).“ (Krastev: Europadämmerung, S. 20f)
War bis soeben noch die Rede davon, dass die EU von einem Graben durchzogen durchzogen wird, der Gruppen mit unterschiedlichen kollektiven Erfahrungen voneinander trennt, tritt hier nun unvermittelt das Flüchtlingsdilemma als eine Gefahr auf, die zum Zerfall führen kann.
Es bleibt hier offen, welche Verbindung Krastev zwischen beidem herstellt, außer jener, dass beide Themen in knapper Folge aufeinander behandelt werden. Ist das Flüchtlingsdilemma das eigentliche Problem oder die Zusammenfassung verschiedener Erfahrungsräume in der EU? Oder bilden die Flüchtlinge den Katalysator für das tiefergehende strukturelle Problem? Oder sieht Krastev beides unabhängig voneinander?
Das erste Kapitel gibt hier keinen Aufschluss (und dieser Eindruck wird bis zum Ende des Buches nicht völlig ausgeräumt sein). Doch ohne einen solchen Zusammenhang stellt sich nunmehr die Frage, was Krastev da eigentlich anbietet: Welche Funktion erfüllen seine Schilderungen? Handelt es sich um eine Analyse oder um ein Psychogramm Osteuropas? Soll damit etwas beschrieben, untersucht, gerechtfertigt oder vor etwas gewarnt werden?
Krastev stellt den osteuropäischen Blick auf die EU vor, aber er tut dies in einer Weise, die diesen nicht nur zu rechtfertigen vermag, sondern geeignet erscheint, ihm eine gewisse Überlegenheit zu attestieren, wenn er etwa schreibt, dass „Westeuropäer weiterhin glauben, alles werde schon gut werden.“ Hier und in anderen Formulierungen klingt an, dass aus seiner Sicht das Schicksal der EU schon besiegelt ist, die Wessis in ihrer Naivität das nur noch nicht wahrhaben wollen. Einen ebenso naiven Umgang sieht Krastev im Westen auch beim Thema Flüchtlinge am Werk. Hieraus lässt sich ein Zusammenhang ableiten, der sich beinahe wie ein roter Faden durch das Buch zieht: Der Westen pflegt einen zu naiven Umgang mit den politischen Realitäten. Sei es die Stabilität der EU, die Flüchtlingsfrage oder später dann noch das Demokratieverständnis. Stets klingt nicht nur durch, dass der Osten hierauf einen anderen Blick hat und warum, sondern auch, inwiefern der westliche sich beinahe naiv romantisch ausnimmt.
Auf diese Weise tritt die alte Frage zum Vorschein, ob man sich grundlegende Werte in politischen Fragen leisten kann, oder es allein darum geht, sich im realpolitischen Ringen um Macht durchzusetzen. Krastev gibt eine sehr realpolitisch orientierte Einschätzung ab, wodurch er die EU gefährdet sieht und wie sie zu retten sein könnte. Nur bleibt die Frage offen, was dann eigentlich gerettet wurde, wenn man dafür notfalls alle Werte preiszugeben bereit ist. Jede Realpolitik mündet in das Dilemma, dass sie die Frage beantworten kann, wie man Macht erhält, nicht aber, wofür das gut sein soll. Abseits von den Mächtigen ist sie nunmal kein Selbstzweck.
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Literatur:
Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay; Suhrkamp 2017.
Karl Mannheim: Strukturen des Denkens; Suhrkamp 1980.
Siehe auch:

Heribert Nix: Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie; UVK 2021.
Ein Gedanke zu „Déjà vu“