– gegengelesen –
Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 2)

Ivan Krastev sieht die EU als ein spekulatives Projekt, weil ihr Gelingen von einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung abhängig sei:
„Die Europäische Union ist eine hochriskante Wette darauf, dass die Menschheit sich in Richtung einer demokratischeren und toleranteren Gesellschaft fortentwickeln wird.“ (S. 26)
Man kann eine solche Aussage als Feststellung lesen, aber man kann sich auch kaum des Eindrucks erwehren, dass hier Kritik mitschwingt. Jedenfalls erscheint es wenig ratsam einen Staatenbund auf einer Grundlage zu errichten, die man als unsicher oder gar „hochriskant“ ansieht. Entsprechend könnte man Krastev hier einmal mehr so verstehen, dass er Naivität am Werke sieht.
Unbestreitbar misst die EU ihrem Selbstverständnis nach Demokratie und Toleranz einen hohen Stellenwert bei. Sie betrachtet beides allerdings nicht einfach als ein perspektivisches Ziel, vielmehr handelt es sich um Voraussetzungen für die Aufnahme in die Staatengemeinschaft. Zugleich versucht die EU tatsächlich selbst dazu beizutragen, dass Demokratie und Toleranz fortbestehen, indem sie für einen engen Austausch unter ihren Mitgliedstaaten sorgt, indem sie rechtsstaatliche Anforderungen stellt, indem sie Wert auf freie Wahlen legt.
Worin Krastev eine naive Ausrichtung an hehren Idealen zu erkennen glaubt, das ist dem Bemühen um den Erhalt der gemeinsamen Grundlagen geschuldet. Demokratie und Toleranz gelten der EU nicht als idealistischer Luxus, sondern als notwendige Voraussetzung. Ihr Ende wäre demnach gleichbedeutend mit demjenigen des Staatenbunds. Dieser ist in seiner engen Verzahnung ohne ein solches Fundament nicht vorstellbar. Wie sollte man sich sonst auf gemeinsame, für alle Beteiligte verbindliche Entscheidungen verständigen, wenn man einander mit Intoleranz gegenüberträte? Wie sollten Entscheidungsprozesse für weitreichende Belange, wie sie die EU behandelt, funktionieren, wenn in den einzelnen Staaten unterschiedliche Regierungssysteme herrschten, in manchen womöglich gar Diktaturen? Welcher Autokrat würde sich von anderen Völkern reinreden lassen, wenn er sein eigenes nicht mitreden lässt?
Demokratie: Idealismus oder Macht der Vielen?
Gründet ein Staatenbund nicht auf Demokratie und Toleranz, gründet er also nicht auf Übereinkunft, bleibt demgegenüber nur die Dominanz eines Mitgliedsstaates, um eine gemeinsame Linie zu finden, wobei diese dann natürlich eher auf einer Vorgabe denn auf Verständigung beruht. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass einer Orientierung an Grundwerten im Osten mit mehr Skepsis begegnet wird, trägt man dort doch die Dominanz der Sowjetunionen ebenso im kollektiven Gedächtnis wie das Schicksal sozialistischer Grundwerte. Letztere behielten nicht nur stets utopischen Charakter, sondern wurden zudem oft genug dazu genutzt, realpolitische Beweggründe notdürftig zu kaschieren. Wer im Osten an die Gültigkeit sozialistischer Grundsätze glaubte, galt zweifellos als naiv. Vor dem Hintergrund einer solchen Erfahrung mag es tatsächlich schwer fallen, Prinzipien jedweder Art für relevant zu erachten. Das politische Überleben war von ihnen schlicht nicht abhängig, sie erfüllten lediglich eine Feigenblattfunktion.
Krastev nimmt häufig Bezug auf seine bulgarisch geprägte Biographie und auch in dieser dürften sich im politischen Umfeld Grundwerte allzu oft entweder als vorgeschoben oder als unerreichbar erwiesen haben. Genau dem scheint auch sein Bild von Demokratie und Toleranz zu entsprechen. Für ihn handelt es sich dabei um Idealismus ohne realpolitische Wirkmächtigkeit: Schöne Ideen, aber unrealistisch!
Gerade in einer Demokratie können Grundwerte jedoch mehr sein als lebensfremde Wunschvorstellungen, vielmehr entfalten sie realpolitische Relevanz, insofern sie beim Wähler Unterstützung finden. Dahinter müssen keineswegs bloß idealistische Hirngespinste stehen, sondern die Bürger dürfen sich dadurch die Stärkung eigener Interessen versprechen. Demokratie ermöglicht mehr Einfluss auf politische Entscheidungen und Toleranz größere Unabhängigkeit bei der Wahl des eigenen Lebensstils.
So lange die Macht in den Händen von wenigen Mächtigen liegt, verkommt jede Rede von Grundwerten zu einem macchiavellistischen Manöver, hinter dem sich die Verfolgung davon unabhängiger Interessen verbirgt. Erst wenn die Macht in den Händen der Vielen liegt, richtet sich das Interesse auf die Grundwerte selbst, da damit deren Machterhalt verknüpft ist. Nicht aufgrund einer wie auch immer gearteten moralischen Bedeutsamkeit gewinnen Prinzipien dann Wirkmächtigkeit, sondern weil sie von den Bürgern eingefordert werden, die darin wiederum die Voraussetzung für ihre eigenen politische Partizipation erkennen.
Geburtsfehler oder Grundlage der EU?
Wer es nun für einen Geburtsfehler der EU hält, dass sie Kooperation an bestimmte Voraussetzungen knüpft, äußert damit nicht so sehr Zweifel an ihrer Zukunftsfähigkeit, sondern vielmehr an ihrem Wesenskern und ihrer Geschichte. Immerhin hat man sich von ihrer Gründung versprochen, dass sie Völker einander näher bringt, die sich zuvor in zwei Weltkriegen unerbittlich bekämpft hatten. Sie wurde nicht zuletzt geschaffen, um den Frieden zu wahren; und von diesem Geist wurde auch die Osterweiterung ein gutes Stück mitgetragen.
Indem er diese Grundlagen für entbehrlich hält, reduziert Krastev die EU zum reinen Selbstzweck. Ihn kümmern keine konkreten Inhalte, sondern allein die Bestandserhaltung. Damit tritt er mit Wahrnehmungskategorien an sie heran, die der Denkschule des politischen Realismus entspringen. Während dieser allerdings lediglich davon ausgeht, in zwischenstaatlichen Verhältnissen einzelne Nationalstaaten als nutzenoptimierende, einheitliche Akteure auffassen zu können, wendet Krastev dieselben Kategorien auf die EU an, als könnte sie ebenso als Einheit behandelt werden. Der Staatenbund erscheint bei ihm als eigenständiger Akteur, der dem Interesse folgt, seinen Bestand zu erhalten und seine Macht womöglich auszubauen.
Mehr noch als bei Nationalstaaten aber werden bei einem Staatenbund die Grenzen eines solchen Blickwinkels deutlich. Die EU prägt ein kontinuierlicher Verhandlungsprozess ihrer Mitgliedsstaaten, aus dem bestenfalls resultiert, dass sie als Akteur auftreten kann, oft genug aber ihre Uneinheitlichkeit deutlich wird. Die EU kennt kein intrinsisches Interesse, sondern vertritt stets nur das Verhandlungsergebnis ihrer Mitglieder. Von diesen ist allerdings nicht selten eine Machterweiterung der EU gar nicht gewünscht. Ein eigenes Interesse können allenfalls die EU-Behörden verfolgen, was allerdings bei Mitgliedstaaten und Bürgern gleichermaßen zu Misstrauen führt, sobald dies auch nur greifbar wird.
Geschichtsvergessenheit des politischen Realismus
Folgte man Krastev, stünde der EU ihr Idealismus im Weg. Damit verwechselt er jedoch eine weltfremde Sehnsucht nach hehren Zielen mit einer aus zwei Weltkriegen gewonnenen Befürchtung, dass ohne Demokratie und Toleranz der nächste kriegerische Konflikt nur eine Frage der Zeit sein dürfte. In bester Tradition des politischen Realismus betrachtet Krastev nur gegenwärtig vorliegende Interessen und leitet daraus ab, dass es für die EU als Institution aktuell womöglich besser wäre, von grundlegenden Prinzipien abzurücken, um ihre Macht zu erhalten. Kurzfristig mag das richtig sein, dass man damit aber mittelfristig die Grundlage der Gemeinschaft zerstört, liegt außerhalb der Reichweite eines solch gegenwartsfixierten Nutzenkalküls.
Generell entzieht sich dem politischen Realismus jegliches Beharren auf Prinzipien, sobald deren Verfolgung sich mühevoll gestaltet und sich daraus kein unmittelbarer machtpolitischer Nutzen ableiten lässt. Das liegt aber weniger an den jeweiligen Prinzipien als vielmehr an ihm selbst. Indem der politische Realismus alles der Macht und ihrem Erhalt unterordnet, erkennt er keine anderen Kriterien an. Auf dem Alter des Machtstrebens, und sei dieses noch so kurzfristig, muss im Zweifel jedes Prinzip geopfert werden und sei dieses langfristig noch so vielversprechend.
Einem solchen Blickwinkel bleibt verborgen, dass sich die EU auf diesem Weg nicht retten lässt. In dem Maße, wie sie sich von den Bürgern abwendet, werden sich diese auch von ihr abwenden und werden das in den nationalen Wahlen zum Ausdruck bringen, eben weil Demokratie nicht Ziel, sondern bereits vorhanden ist. Wie soll die EU da Bestand haben?
Schon heute führt Bürgerferne zu einem Verdruss, der EU-skeptischen Parteien europaweit großen Zulauf verschafft. Nicht zu viel Demokratie hat die gegenwärtige Ablehnung der Brüsseler Bürokratie heraufbeschworen, sondern dass die demokratische Legitimation von Entscheidungen im dortigen Institutionengewirr bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird.
Verdruss aber lässt sich nicht machtpolitisch erklären, sondern ergibt sich aus freiheitlichen Prinzipien. Deren soziale Kraft bleibt dem Realisten Krastev aber verschlossen. Er kann nicht verstehen, weshalb man an Grundwerten und Zielen festhalten sollte, die nicht unmittelbaren Machtgewinn oder zumindest Machterhalt versprechen. Eigentlich lässt eine solche Denkweise überhaupt keine Ziele zu, sondern folgt lediglich blind der Mechanik des machtpolitischen Nutzenkalküls. Man kann daraus zwar für die Interaktion sowohl unter Individuen als auch unter Staaten mögliche Erwartungen für unmittelbar bevorstehendes Verhalten ableiten, nicht jedoch längerfristige Motive. Das Streben nach Machterhalt mag Lenins Abkehr von jenen sozialistischen Prinzipien erklären, die er selbst vor der Revolution noch hochgehalten hatte, nicht jedoch, wie es überhaupt zur Revolution kommen konnte.
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Literatur:
Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay; Suhrkamp 2017.
Siehe auch:

Heribert Nix: Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie; UVK 2021.