Natürliche Rechte

– gegengelesen –

John Locke: „Über die Regierung“ (Teil 1)

John Locke: Two Treatises of Government
John Locke: Two Treatises of Government

Im Jahr 1689 erscheint in England ein Buch mit dem Titel „Two Treatises of Government“ („Zwei Abhandlungen über die Regierung“), dessen erste Sätze bereits verraten, dass es zur Unterstützung des Königs geschrieben wurde. Was konnte daran so gefährlich sein, dass der Autor lieber unerkannt bleiben wollte? Klingt das Anliegen doch völlig harmlos:

„Leser, du hast hier den Anfang und das Ende einer Abhandlung über die Regierung. Es ist nicht der Mühe wert, dir zu berichten, was aus den Papieren geworden ist, welche die Mitte ausfüllen sollten und die mehr waren als der ganze Rest. Ich hoffe, daß die übriggebliebenen ausreichen werden, den Thron unseres großen Retters, des gegenwärtigen Königs Wilhelm zu festigen und die Berechtigung seines Anspruchs auf Zustimmung des Volkes zu beweisen, den er als unsere einzige gesetzmäßige Regierung voller und klarer besitzt als irgendein anderer Fürst in der Christenheit. Sie mögen vor der Welt das englische Volk rechtfertigen, dessen Liebe zu seinen gerechten und natürlichen Rechten, verbunden mit der Entschlossenheit, sie zu bewahren, die Nation gerettet hat, als sie sich hart am Rande von Ruin und Sklaverei befand.“ (John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Vorwort, S. 63)

Wenn man mitten im 17. Jahrhundert, mitten im absolutistischen Zeitalter es als notwendig ansieht, die Berechtigung eines Königs zu beweisen, und darüber hinaus meint, sich lieber anonym äußern zu müssen, dann muss etwas Gewagtes vor sich gehen. Was das sein könnte, verbirgt sich hinter der unscheinbaren Formulierung von den „natürlichen Rechten“, welche die Taten des englischen Volkes zu rechtfertigen vermögen. Seit Aristoteles dient die Rede von der Natur dazu, Bestehendes zu begründen. Es leiten sich daraus weniger Rechte ab, sondern vielmehr Pflichten etwas so zu akzeptieren, wie es ist, etwa die Sklaverei:

„Wer von Natur nicht sein, sondern eines anderen, aber ein Mensch ist, der ist ein Sklave von Natur.“ (Aristoteles: Politik 1254a)

Aristoteles: Philosophische Schriften
Aristoteles: Philosophische Schriften

Der Autor der oben genannten Abhandlungen aber beruft sich auf natürliche Rechte, um jenen Umsturz zu rechtfertigen, den das englische Volk herbeigeführt hat. Im vorangegangenen Sommer 1688 hatten einflussreiche Engländer William III., Statthalter der Niederlande, zur Invasion ermuntert. Der ließ sich nicht lange bitten und vertrieb gerne König James II., um selbst auf den englischen Thron zu steigen. Ein solches Vorgehen stand zweifellos im Gegensatz zu den überlieferten, dynastischen Herrschaftsrechten, doch Wilhelm wusste große Teile des englischen Volkes und Adels hinter sich. Das allein zählte in einer absolutistischen Welt allerdings wenig und so bedurfte es einer Rechtfertigung. John Locke machte sich daran und erlangte damit Berühmtheit, ohne danach gestrebt zu haben, denn er wagte vorerst nur die anonyme Veröffentlichung seiner Abhandlungen. Ihm ging es um die Sache, um sein Auskommen musste er sich ohnehin keine Sorgen machen.

Vom Sekretär des Schatzkanzlers zum Revolutionär

John Locke verkehrte von Kindheit an in elitären Kreisen. Er war Sohn eines wohlhabenden Gerichtsbeamten, Absolvent einer Londoner Eliteschule und Dozent für Griechisch, Rhetorik und Ethik an der berühmten Universität Oxford. 1667 machte er die Bekanntschaft von Anthony Ashley-Cooper, königlicher Schatzkanzler und aufgrund seiner Verdienste später Earl of Shaftesbury. Diesem rettete der Ethik-Professor vermutlich mit einem medizinischen Eingriff das Leben und wurde fortan dessen Leibarzt und Sekretär. Weit davon entfernt ein Umstürzler zu sein, befand sich Locke zunächst im engsten Umfeld des englischen Königs Charles II.

Das änderte sich Mitte 70er Jahre, als Ashley-Cooper in die Opposition wechselte. Er war bei Charles in Ungnade gefallen, weil er es 1672 nicht vermochte hatte, das Parlament zur Verabschiedung der „Declaration of Indulgence“ zu bewegen. Diese Erklärung versprach ihrem Wortlaut nach mehr Freiheiten für alle jene, die nicht der anglikanischen Kirche angehörten. Selbst nonkonformistischer Protestant, unterstützte Ashley-Cooper mehr Religionsfreiheit, die Mehrheit der Engländer befürchteten jedoch einen Rückfall in den Katholizismus, dem die englische Königsfamilie offenbar nahestand, hatte doch Charles eine katholische Ehefrau, enge Verbindungen zu katholischen Herrscherhäusern und sein Bruder James war bereits zum Katholizismus konvertiert. Man vermutete, dass der Weg dafür frei gemacht werden sollte, nach und nach die wichtigsten Positionen im Staat mit Katholiken zu besetzen. Deshalb scheiterte die Erklärung im Parlament und Ashley-Cooper verlor das Vertrauen des Königs. So sehr er zuvor für mehr Religionsfreiheit eingetreten war, so sehr setzte er sich nun dafür ein, einen katholischen König zu verhindern. Doch es half alles nichts: Charles starb 1685 kinderlos und die Krone ging an seinen katholischen Bruder James II. über. Da dieser ebenfalls noch männlichen Nachwuchs entbehrte, hoffte man darauf, dass die katholische Herrschaft nur vorübergehend wäre und bald dessen protestantischer Neffe William III. zum Zuge käme. Doch am 10. Juni 1988 wurde James ein Thronfolger geboren, womit zu befürchten stand, dass Katholiken auf unabsehbare Zeit über England herrschen könnten. Zwanzig Tage später ersuchten deshalb führende Protestanten bei William um eine Invasion. Vom Neugeborenen seiner Ansprüche auf den englischen Thron beraubt, kam dieser dem Aufruf im November nach, ohne auf große Widerstände zu stoßen, standen die Engländer doch mehrheitlich auf protestantischer Seite. Am 13. Februar 1689 bestieg William den englischen Thron und die „Glorious Revolution“ war vollbracht.

Um die Rechtfertigung dieses neuen Königs war es Locke also zu tun und deshalb veröffentlichte er noch im gleichen Jahr seine „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, was angesichts der revolutionären Vorgänge nicht ungefährlich war. Doch wie er selbst schreibt, sah er die englische Nation „am Rande von Ruin und Sklaverei“, versklavt von Katholiken. Aus dem Sekretär des Schatzkanzlers war ein Revolutionär geworden, allerdings ein ziemlich gemäßigter Revolutionär bei genauerer Betrachtung. Denn Locke lehnte die Monarchie nicht ab, im Gegenteil, er trat klar für die Fortsetzung unter William ein. Im Grunde war er lediglich nicht bereit, die Herrschaft von Katholiken über das weitgehend protestantische England hinzunehmen. Dazu musste er allerdings vom überlieferten dynastischen Erbrecht abweichen und Herrschaft von der Zustimmung durch das Volk abhängig machen.

Aristoteles: Politik, in: Philosophische Schriften; Band 4. Meiner 1995.

Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung; Suhrkamp 1977.

 

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