Der Naturzustand

– gegengelesen –

John Locke: „Über die Regierung“ (Teil 3)

John Locke: Two Treatises of Government
John Locke: Two Treatises of Government

John Locke unterscheidet politische Macht von derjenigen des Vaters über seine Kinder oder von derjenigen eines Herrn über seine Diener und Sklaven. Diese verschiedenen Formen der Macht gleichzusetzen, wirft er dem seinerzeit einflussreichen Robert Filmer vor. Anders als dieser leitet Locke politische Macht nicht aus väterlicher ab, sondern sieht in ihr eine andere Ausgangslage, weil sich hier auch Menschen gleichen Alters und gleichen Rangs gegenüberstehen. Politik muss die Beziehungen aller Menschen zueinander regeln, nicht nur jene, die sich ohnehin schon durch Ungleichheit auszeichnen. Locke sieht deshalb darin in erster Linie ein Rechtsverhältnis:

„§3. Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen, wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.“ (Locke 1977: S. 201)

Wenige Jahrzehnte zuvor hatten die Erfahrungen der Religionskriege Thomas Hobbes noch dazu bewogen, alles der Erhaltung des Lebens unterzuordnen. Die Sicherung der eigenen Existenz stand demzufolge über allem. Nun nennt Locke als sein zentrales Anliegen die Garantie des Eigentums. Auf den ersten Blick wird nicht ersichtlich, weshalb er hier einen Unterschied zum Verhältnis von Vater und Kind beziehungsweise von Herr und Knecht sieht. In beiden Fällen läuft eine Machtausübung darauf hinaus, dass ein Machthaber über einen Unterlegenen wie über sein Eigentum verfügt. Der Unterschied erschließt sich erst daraus, dass Locke politische Gewalt als ein Verhältnis unter Gleichen betrachtet:

„§4. Um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ihrem Ursprung abzuleiten, müssen wir erwägen, in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.
Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, als daß Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuß derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen, es sei denn, ihr Herr und Meister würde durch eine deutliche Willensäußerung den einen über den anderen stellen und ihm durch eine überzeugende, klare Ernennung ein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft und Souveränität verleihen.“ (ebd. S. 201f)

Politische Gewalt dient folglich dazu, das Verhältnis unter diesen Freien und Gleichen zu regeln, wogegen das Kind oder der Knecht gegenüber dem Vater beziehungsweise dem Herrn weder als frei noch als gleich gelten können. Dennoch erwächst aus diesem Abschnitt eine gewisse Spannung gegenüber dem unmittelbar vorangehenden §3: Inwiefern ergibt sich daraus der Hauptzweck politischer Macht? Wenn Menschen „von Natur aus frei“ und gleich sind und „niemand mehr besitzt als ein anderer“, wozu Bedarf es dann der Garantie des Eigentums? Zunächst wähnt man sich eher auf jenem Weg, den Hobbes eingeschlagen hatte, wonach der Mensch keinen Unterschied machen dürfe, wo die Natur keinen kennt. In diese Richtung weist auch §6, allerdings nimmt Locke hier eine religiöse Wendung vor, die Hobbes vermieden hatte:

„§ 6. Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit ist, so ist es doch kein Zustand der Zügellosigkeit. Der Mensch hat in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen; er hat dagegen nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweck als seine bloße Erhaltung erfordert. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. Sie sind sein Eigenum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt.“ (ebd. S. 203)

Die Aufgabe einer Regierung ist nicht nur der Erhalt des Lebens

Streng genommen, erübrigt sich der Verweis auf die Natur in dieser Verwendung, denn letztlich behandelt Locke alles als Werk Gottes. Damit bildet nicht mehr jene natürliche Gleichheit und Freiheit die Grundlage, auf die Hobbes sich berufen hatte. Vielmehr glaubt Locke zu wissen, wie Gott die Menschen geschaffen hat. Anstatt die naturrechtliche Argumentation streng zu verfolgen, erfolgt in geradezu scholastischer Manier der Versuch, naturrechtliche und religiöse Ansichten zu versöhnen. Deshalb gelangt Locke auch zur gleichen Folgerung wie Hobbes, wenn auch mit anderen Mitteln: Da das Naturrecht von Einzelnen übertreten wird, bedarf es einer Macht, die an die Einhaltung gemahnt und Wiedergutmachung erwirkt. Anders als Hobbes sieht Locke die Lösung allerdings nicht im Absolutismus:

„§ 13. (…) Aber ich möchte diejenigen, die einen solchen Einwand machen, doch bitten, sich einmal daran zu erinnern, daß auch absolute Monarchen nur Menschen sind. Wenn die Regierung also das Heilmittel für jene Übel sein soll, die sich unmittelbar als Folge ergeben, wenn die Menschen Richter in eigener Sache sind, was den Naturzustand so unerträglich macht, dann möchte ich doch gern wissen, wie jene Regierung beschaffen ist und weshalb sie besser ist als der Naturzustand, in der ein Mensch, der viele andere Menschen beherrscht, die Freiheit hat, in eigener Sache sein Richter zu sein, und mit allen seinen Untertanen tun darf, was er will, ohne daß es irgend jemanden auch nur gestattet wäre, von denjenigen, die tun, was ihnen beliebt, Rechenschaft zu fordern oder sie zu kontrollieren? Wo man gehorchen muß, was er auch immer anordnet, gleichgültig, ob er dabei von Vernunft, Irrtum oder Leidenschaft geleitet wird? Da haben es die Menschen im Naturzustand doch viel besser, wo sie nicht gezwungen sind, sich dem ungerechten Willen eines anderen zu unterwerfen, und wo jeder, der in eigener oder fremder Sache falsch urteilt, der gesamten Menschheit gegenüber dafür verantwortlich ist.“ (ebd. S. 207f)

Von hier an setzt sich Locke nicht nur in der Argumentationsweise, sondern auch in der Sache von Hobbes ab. Dieser hatte die Lösung seines Problems noch im absoluten Herrscher gesehen: Wo die Machtfrage geklärt ist, besteht kein Anlass für Krieg, resultierten die Religionskriege doch aus den konkurrierenden Ansprüchen von Fürsten, Adeligen und Kirchen. Der Absolutismus bedrohte das Leben des Einzelnen damit zwar weniger als mörderische Bürgerkriege, aber Freiheit und Gleichheit, immerhin Ausgangspunkte von Hobbes Naturrecht, erfuhren dadurch keinen höheren Stellenwert. Selbst wenn man tatsächlich zugestehen würde, dass absolutistisch regierte Staaten weniger zu Kriegen neigen, so blieb in Friedenszeiten die Lage für die Menschen unverändert. Damit wollte sich Locke nicht abfinden.

Literatur:

Locke, John (1977): Zwei Abhandlungen über die Regierung; Frankfurt am Main.

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