Gendern

Die deutsche Sprache privilegiert im überlieferten Gebrauch die männliche Form und ignoriert auf diese Weise die Hälfte der Bevölkerung. Frauen sollen sich davon mit angesprochen fühlen, obwohl genau das sprachlich nicht zum Ausdruck kommt. Das generische Maskulinum ist nicht einfach nur eine etablierte Konvention, sondern es prägt unsere Vorstellungen, die uns beim Lesen und Hören durch den Kopf gehen. Wenn von Ärzten, Bürgern oder Fußballern die Rede ist, haben wir unwillkürlich Männer vor Augen (vgl. Pollatschek 2022a). Im Singular, wenn es für allgemeine Aussagen gebraucht wird, tritt die Wirkung noch stärker zu Tage:
Wenn man krank ist, soll man zum Arzt gehen.
Zum Arzt, nicht zur Ärztin. Freilich könnte man einfach hinzufügen: ‚oder zur Ärztin‘. Doch dann bliebe immer noch das formal ebenso geschlechtsunspezifische wie unpersönliche, mithin generalisierende Personalpronomen ‚man‘, bei dem ungerührt männliche Bezüge dominieren. Es ist nicht zu überhören, dass das Wort ‚man‘ auf den gleichen Wortstamm zurückgeht wie das Wort für männliche Erwachsene, mit dem es auch seine Aussprache teilt.
Wenn man im Deutschen von Menschen — noch ein Wort das sich etymologisch vom gleichen Wortstamm herleitet — im Allgemeinen spricht, redet man, wie auch immer man formuliert, von Männern, als gäbe es keine anderen Gesellschaftsmitglieder. Angesichts dieser unbefriedigenden Situation wird nach Formen gesucht, welche geeignet erscheinen, diese völlig unnötige, im Sprachgebrauch aber hartnäckige Einseitigkeit aufzuheben. Frauen sollen endlich Eingang in eine Sprache finden, die sie tagtäglich verwenden und von der sie sich tagtäglich angesprochen fühlen sollen, in der sie aber nicht vorkommen bzw. bestenfalls nur, sofern die Rede direkt auf sie als einzelne weibliche Person kommt.
Um endlich auch die andere Hälfte der Bevölkerung in die Sprache zu integrieren, wird mit verschiedenen Formen experimentiert, wobei allein für die Bezeichnung von Personen einige Varianten kursieren: Bürger/innen, BürgerInnen, Bürger_innen, Bürger*innen oder Bürger:innen. Durch Anfügen von ‚innen‘ an den Wortstamm wird das Nomen in eine weibliche Form überführt, wobei eine Kennzeichnung an der Bindestelle, den Männern wohl signalisieren soll, dass sie nicht vergessen sind. Beim Sprechen bringen Virtuos:innen das durch eine kleine Pause, die Gender-Gap, zum Ausdruck.
Bei allen Unterschieden im Detail zeichnet sich unter Anhängern der gendersensiblen Sprache also zumindest bei der Benennung von Personen ein gemeinsames Vorgehen ab. Bei anderen Schwierigkeiten, welche die deutsche Sprache dem Gendern durchaus bereitet, herrscht mehr Uneinigkeit. Am besten vermeidet man — oh, Verzeihung: Am besten wäre es deshalb, männlich konnotierte Formulierungen zu vermeiden. Aus der Not, soll frau:man also eine Tugend machen! Doch das ist nicht immer so einfach und kann das eigene Sprachvermögen dann schon mal herausfordern — oder eine:n zum Verstummen bringen!
Ändern
Obwohl die weibliche Hälfte der Bevölkerung sich dadurch endlich angesprochen fühlen kann, weckt das Gendern nicht wenig Unzufriedenheit. Zuallererst wäre hier der holprige, umständliche Sprachfluss zu nennen: Die Gender-Gap kommt beim Sprechen einem Stolpern gleich und wird beim Lesen mitsamt dem folgenden ‚innen‘ leicht übersprungen, sodass weiterhin die männliche Assoziation dominiert, lediglich Texte und Zungen Zusatzaufwand betreiben. Es fühlt sich an wie eine Art Buße für Jahrtausende männlich fehlgeleiteter Sprachentwicklung. Niemand kann etwas dafür, aber wir alle müssen das jetzt durch eine Art Besteuerung von Sätzen mit einem oder mehreren ‚innen‘ begleichen, was mit Gap zu allem Überfluss allzu leicht eher Assoziationen ans Gegenteil von ‚außen‘ weckt denn an Frauen.
Denkt frau:man aber tatsächlich bei jedem ‚innen‘ an Frauen, droht der umgekehrte Effekt zum generischen Maskulinum: Ein generisches Femininum nimmt seinen Platz ein. So sehr Gendern formal auf beide Geschlechter verweisen möchte, so sehr folgt es grammatikalisch der weiblichen Form: Kolleg:innen nicht Kollegen:innen, Friseur:innen nicht Friseure:innen, Ärzt:in nicht Arzt:in.
Schwierig ist auch die Verwendung von Pronomina oder Artikeln. Sätze werden dadurch oft umständlich und bei mündlicher Verwendung kaum noch nachvollziehbar. An Stelle der beabsichtigten Mitteilung rückt dann das Gendern in den Mittelpunkt.
Jede:r Kolleg:in wurde an ihrem:seinem Arbeitsplatz ein neuer Bildschirm bereitgestellt.
Wenden Sie sich an die:den Ärzt:in Ihres Vertrauens. Sie:er wird Sie beraten.
Mag Gendern vielleicht auch eine Sache der Gewöhnung sein, geht seine Umständlichkeit unweigerlich zu Lasten von Prägnanz und Nachvollziehbarkeit. Genau das hemmt seine Verbreitung. Viele sind einfach nicht bereit, ihren Sprachgebrauch in diesem Ausmaß zu ändern und nach alternativen, teilweise holprigen Formulierungen zu suchen — oder sie sind davon schlicht überfordert. Frau:man denke nochmals an den Umgang mit dem generalisierenden Personalpronomen ‚man‘, das in jedem Satz durch frau:man zu ersetzen wäre, falls einer:m einfach keine alternative Formulierung einfallen will. Frau:man nähme damit vielen auch ein sprachliches Mittel. Zwar kann ‚man‘ oft durch ‚wir‘ ersetzt werden, doch das funktioniert nicht überall, ohne dass sich die Bedeutung verschiebt:
Das kann man so machen, muss man aber nicht!
Man steckt jedenfalls tief im deutschen Sprachgebrauch und der Wortstamm, in dem offenbar der Ursprung allen Übels liegt, hält noch mehr Ungemach bereit: Nicht nur ‚man‘ und ‚Mensch‘ haben die gleiche etymologische Wurzel wie ‚Mann‘, sondern auch so genannte Indefinita (die deshalb gar nicht so indefinit sind) wie ‚jemand‘ und ’niemand‘; Wörter also, die zwar seltener vorkommen, aber umso argloser über die Zunge gehen:
Könnte bitte jemand das Fenster öffnen!
Entgendern
Das größte Problem des Genderns wurde dabei noch gar nicht genannt: Es liegt noch nicht einmal so sehr in seiner technischen Umsetzung, für die sich sicherlich Lösungen finden lassen, sondern darin dass es gendert. Statt geschlechtliche Zuweisungen zu vermeiden, betont es sie in ihrer „Binarität“ (Roedder 2022a). Nicht nur die Differenzierung von Mann und Frau tritt deutlich hervor, sondern auch eine Absage an jede andere (Un-)Geschlechtlichkeit. Die Wurzel dessen, wogegen es sich eigentlich richtet, die pathologische Überbetonung geschlechtlicher Differenzen und die Scheidung in genau zwei Geschlechter, erfährt durch das Gendern lediglich ihre Perpetuierung und Festigung. Der Gleichbehandlung aller Personen, gleichgültig welchen Geschlechts oder welcher (Selbst-)Zuschreibungen, bereitet sie jedenfalls nicht den Weg.
Bereits 1992 hat Hermes Phettberg Formulierungen vorgeschlagen, die ein Entgendern ermöglichen, der Binarität des Deutschen also einen Ausweg weisen wollen (vgl. Kronschläger 2020a, 2022a) Statt von der:m Leser:in spricht Phettberg vom Lesy bzw. im Plural von den Lesys. Damit wendet sich Phettberg konsequent von gebräuchlichen Formen ab und schafft so Distanz zum binären Sprachgebrauch.
Doch der Vorteil ist auch ein Nachteil: Die resultierenden Formen wirken zu fremd, um sich leicht zu etablieren. Ob man — diese Form rührt Phettberg nicht an — will oder nicht, es schwingt außerdem immer eine Verniedlichung mit, die in einigen Fällen schlicht unangemessen wirkt: das Kanzly, das Arzty, das Chefy, das Mördy, das Flüchtlingy. Gerade weil es lustig klingt, dürfte die Akzeptanz darunter leiden. Zudem treten Formen mit irreführenden Assoziationen auf: Fußbally, Repräsentanty, Kaufmanny. Auch wirken gerade kurze Bezeichnungen teilweise verwirrend: Bäcky, Schreiny, Makly, Boxy. Missverständnisse sind vorprogrammiert.
Während Phettberg sich bei Personenbezeichnungen von gebräuchlichen Formen bis hin zur Unverständlichkeit distanziert, setzt er bei Pronomina im Kontrast dazu auf das bestens vertraute generische Neutrum:
Wenden Sie sich an das Arzty Ihres Vertrauens. Es wird Sie beraten. Beachten Sie seine Öffnungszeiten.
Formal umgeht Phettberg damit zwar das Maskulinum, trotzdem klingt dieses gerade bei den Possessivpronomen durch, da sächliche und männliche Formen hier identisch sind. Da ‚man‘ und ‚jemand‘ unverändert bleiben, ergibt sich eine merkwürdige Schieflage: Dem Zuviel an Distanz bei Personenbezeichnungen steht ein Zuwenig bei den Pronomina gegenüber.
Trotzdem darf Phettbergs Vorschlag als richtungweisend gelten, weil er überhaupt erst ermöglicht, zu entgendern. Statt den Ansatz zu verwerfen, könnte myn es deshalb auf einen Versuch ankommen lassen, ob sich die beiden gegenläufigen Schwächen nicht mildern und für beide ein konsistenter Weg verfolgen ließen. Das Ziel wäre dann eine gewisse Distanz zu gebräuchlichen männlichen wie weiblichen Formen bei gleichzeitiger Nähe zum gewohnten Sprachgebrauch. Das Entgendern soll einen les- und hörbaren Unterschied machen, ohne den Sprachfluss umzuleiten und den Sprachrythmus zu unterbrechen. Das von Phettberg vorgeschlagene ‚y‘ könnte hierfür einen wertvollen Dienst erweisen.
Indem myn die Wörter nicht kürzt, sondern lediglich ein ‚y‘ einschiebt, bleibt der gewohnte Sprachgebrauch erhalten, während seine Aussprache als ‚ü‘ statt als ‚i‘ eine Verniedlichung vermeidet und die Distanz zur männlichen Form aufrecht erhält. Des weiteren ließen sich alle personalisierten Formen durch die Verwendung eines ‚y‘ als entgendert ausweisen: dys Lesyr, dy Repräsentynten, dys Flüchtlyng. Ebenso ließe sich mit den Pronomina verfahren:
Jedym Kollegyn wurde an syhnem Arbeitsplatz ein neuer Bildschirm bereitgestellt.
Wenden Sie sich an dys Yrzt Ihres Vertrauens. Ys wird Sie beraten. Beachten Sie syhne Öffnungszeiten.
Könnte bitte jemynd das Fenster öffnen.
Das kann myn so machen, muss myn aber nicht!
Zugegebenermaßen fügt sich ein solches Vorgehen deshalb leichter in den Sprachgebrauch, weil es eine gewisse Nähe zu gebräuchlichen Formen aufweist. Es nimmt Anklänge ans gewohnte generische Maskulinum notegedrungen hin, weil es dem generischen Neutrum folgt, um Verständlichkeit und sprachliche Mittel zu erhalten. Dafür es bricht durchgängig mit jeder geschlechtsspezifischen Form und vermeidet die mit jeder Binarität einher gehende Notwendigkeit doppelter Formulierungen und Verfestigung der Unterschiede. Selbst im Singular ließen sich Persynen geschlechtsneutral benennen und so peinliche Fehlzuschreibungen verhindern. Entgendern enthält sich jeder Zuweisung und macht damit auch niemynden zur Sache, weil es nicht gleichlautend zur sächlichen Form ist. Es handelt sich um eine eigene Form, sozusagen ein generisches Ypselinum.
Um die nötige Distanz zum generischen Maskulinum hinreichend zu erzeugen, kommt der Betonung des ‚y‘ die Aufgabe zu, neutrale Assoziationen zu wecken, wie sie sich im Englischen bei Wörtern trotz sichtbarem germanischem Ursprung etabliert haben: chancellor, footballer, murderer, teacher etc. Was sich für deutsche Muttersprachlyr selbst im Englischen aufgrund der vertrauten Endung ‚er‘ noch männlich anhört, hat für Engländyr nicht diese Konnotation. Vielleicht kann ‚yr‘ im Deutschen Ähnliches leisten.
Literatur
Kronschläger, Thomas (31. Aug. 2020). Entgendern nach Phettberg im Überblick. Researchgate. url: https://www.researchgate.net/publication/343974830_Entgendern_nach_
Phettberg_im_Uberblick (besucht am 13. 05. 2021).
Kronschläger, Thomas (28. Jan. 2022). »Entgendern nach Phettberg«. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte (APuZ) 5-7/2022. url: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/
geschlechterger
Pollatschek, Nele (28. Jan. 2022). »They: Gendern auf Englisch«. In: Aus Politik und Zeit-
geschichte (APuZ) 5-7/2022. url: https : / / www . bpb . de / shop / zeitschriften / apuz /
geschlechtergerechte- sprache- 2022/346079/they- gendern- auf- englisch/ (besucht
am 06. 12. 2022).
Rödder, Andreas und Silvana Rödder (28. Jan. 2022). »Sprache und Macht«. In: Aus Politik
und Zeitgeschichte (APuZ) 5-7/2022. url: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/
apuz/geschlechtergerechte- sprache- 2022/346076/sprache- und- macht/ (besucht am
06. 12. 2022).