Israel = Palästina: Zur Logik der Feindschaft

Friedenssymbol

Als Gelobtes Land gilt ein Landstrich, der heimgesucht wird von Terror, von Krieg, von Todesangst, Hass, Vertreibung, Aufhetzung, Unversöhnlichkeit und vielen weiteren schändlichen Attributen. Das Gelobte Land präsentiert sich als das Gegenteil dessen, was Lob verdient. Es verdichten sich dort die Auswirkungen all der schlechten Eigenschaften, die Menschen anhaften. Zwar haften sie nicht nur dort ihnen an, doch an kaum einem anderen Ort kommt ihre (selbst-)zerstörerische Kraft und die daraus resultierende fatale Ausweglosigkeit so unverhüllt zum Tragen. Offenbar völlig unfähig, friedlich zusammen zu leben, überziehen sich Menschen gegenseitig mit Feindseligkeit, Gewalt, Unterdrückung, Unbarmherzigkeit und Niedertracht – nicht nur dort, sondern überall auf der Welt. Das Gelobte Land hält uns exemplarisch in aller Deutlichkeit vor Augen, zu was Menschen fähig, mehr aber noch, zu was sie unfähig sind.

Alle Welt diskutiert darüber, ob nun Israelis oder Palästinenser zu tadeln, oft schlimmer noch: zu verurteilen sind. Wer trägt Schuld? Wer liegt im Recht? Wer legt unentschuldbare Brutalität an den Tag? Wer sollte geächtet werden?

Viele, darunter erschreckend viele hochrangige Persönlichkeiten, tun dabei so, als wären diese Fragen eindeutig zu beantworten. Sie tun so, als ließe sich aus der Geschichte klar ableiten, auf welcher Seite man stehen müsse. Auch tun sie so, als hätte nicht alle Welt seinen Anteil an dieser Tragödie. Doch kaum etwas dürfte weniger geeignet sein als die komplizierte Geschichte von Juden und Palästinensern, um Eindeutigkeiten abzuleiten, und alle, die wollten, könnten das wissen. Wir dürfen wohl sogar davon ausgehen, dass die meisten genau darum wissen und dennoch vor unlauteren Vereinfachungen nicht halt machen. Sie spielen sich mit moralischen Urteilen auf und vergehen sich dabei in gleicher Weise an der Moral, wie sie es Israelis oder Palästinensern vorwerfen: Sie vereinfachen – um des billigen Beifalls willen! Sie spitzen zu – um der Aufmerksamkeit willen! Sie handeln aus Niedertracht – um der Macht willen!

Denn was ist es anderes als Niedertracht, wenn jemand sich an einem ebenso komplizierten wie schrecklichen Konflikt in einer Weise bedient, die allein seinen Interessen dient. Zumal es zweifellos ein Leichtes ist, sich aus dem reichhaltigen Fundus an Anknüpfungspunkten, den eine solch umfangreiche Historie wie die des Nahostkonflikts unvermeidlich bereit hält, ganz nach Gusto zu bedienen. Doch wer solchermaßen eigennützig vorgeht, vergeht sich an jeglichem Ansinnen, eine konstruktive Lösung auch nur in Betracht zu ziehen. Erbarmungslos wird das traurige Schicksal aller involvierten Israelis und Palästinenser für den eigenen Vorteil ausgeschlachtet. Der aufwiegelnde Spaltpilz dieses Konflikts wird dankbar aufgegriffen, um daraus populistisches Kapital zu schlagen. Auf diese Weise schaffen es Politiker, die vergiftete Atmosphäre aus einem kleinen Land in alle Welt zu tragen; und andere, so sie denn dem gleichen kurzsichtigen Muster folgen, tröpfeln es in den Alltag bis hinein in die Familien: vergiftete Atmosphäre allerorten.

Es ist nicht zu sehen, inwiefern all die Positionierungen pro Israel oder pro Palästina denen helfen, für die sich einzusetzen sie behaupten. Jede Einseitigkeit verschärft den Konflikt nur, indem sie die Zahl derjenigen vergrößert, die sich auf den beiden Seiten eines unüberbrückbaren Grabens sammeln. Plötzlich stehen sich nicht mehr nur Israelis und Palästinenser gegenüber, sondern auch USA und Türkei, sogar Indien und Brasilien. Wer einfach für Israel oder für Palästina ist, erweitert nur den Konflikt, ohne ihn einer Lösung näher zu bringen.

Eine schwierige politische Konstellation löst sich nicht einfach dadurch auf, dass man die Schwierigkeiten ignoriert. Der Nahostkonflikt wird sich weder dadurch erledigen, dass man die Juden ins Meer treibt, wie manche seit Jahrzehnten proklamieren, noch dadurch, dass man Palästinenser ohne jegliche Perspektive auf engstem Raum zusammenpfercht, wie es andere seit Jahrzehnten vorantreiben. Vielmehr macht schon die Ankündigung solcher engstirnigen Absichten jede Lösung unmöglich.

Die Benennung der Feinde

Einseitigkeit und Engstirnigkeit sind es, die zum simpelst möglichen Umgang mit politischen Problemen führen: die Bekämpfung des Feindes. Im Nahen Osten kann man völlig unverstellt beobachten, wohin genau das führt: zum Gegenteil der Lösung, zum ewigen Konflikt. Wo Hass und Feindschaft geschürt werden, bleiben politische Probleme unlösbar. Das Streben nach Auslöschung des Feindes, das so Manche offenbar ungeheuer aufpeitscht, ist ebenso unerfüllbar wie abscheulich, und es folgt der völlig irrigen Annahme, dass es sich dabei um eine Lösung handele. Statt dessen verlängert es Konflikte endlos, weil sie jede Lösungsmöglichkeit jenseits der Vernichtung kategorisch ausschließt.

Schlimmer noch, kennt solcherlei Militanz kein Ende, selbst wenn sie zunächst von Erfolg gekrönt scheint. Sobald nämlich Gewaltbereitschaft sich durch unbarmherziges Einschüchtern, Drohen, Unterdrücken oder gar Morden erst einmal durchgesetzt hat, hört sie damit nicht einfach wieder auf. Vielmehr wird sie ihren vermeintlich erfolgreichen Modus operandi weiter verfolgen und das nächste selbst erwählte Problem auf gleiche Weise zu erledigen versuchen. Sie bleibt einfach ihrem beschrittenen Weg der Problembearbeitung treu, weil sie keinen anderen kennt, keinen anderen kann, keinen anderen auszuprobieren wagt und keinem anderen ihre Anhängerschaft sowie Macht verdankt. Wer einmal zur vorbehaltlosen Bekämpfung von Feinden übergegangen ist, kann damit nicht mehr aufhören. Im Zweifel braucht es dann eben neue Feinde. Das beobachten wir nicht nur im Gelobten Land, sondern überall: Ausländer, Homosexuelle, Juden – auf der Suche nach Feindbildern wird militante Politik schnell fündig.

Jede Bekämpfung von Feinden beginnt dabei zu allererst mit der Benennung der Feinde selbst. Es gibt viele Möglichkeiten mit politischen Problemen und anderen Auffassungen umzugehen. Feindschaft bildet nur eine davon, allerdings eine verführerische. Die Trennung nach Gleichgesinnten und Feinden sorgt für eine Klarheit, wie sie in der Sache nie zu erreichen wäre. Sie vermeidet mühselige Abwägungen komplizierter Inhalte, indem sie das Problem an Personen fest macht. Sie gibt das Gefühl, das Richtige zu tun, so lange man nur gegen den Feind ankämpft. Einmal benannt, entlastet der Feind von jeder Beschäftigung mit den Argumenten von anderer Seite und den Widersprüchen der eigenen. Die Logik folgt dann dem simplen Schema, wie es uns die visuellen Medien seit Jahrzehnten unablässig vorspielen: Die Guten gegen die Bösen, Freund gegen Feind.

Mit der Benennung der Feinde werden aber nicht nur sämtliche Probleme einfach auf Personen projeziert, sondern es werden dadurch Feinde überhaupt erst erschaffen. Denn so lange wir uns über Argumente und schwierige Fragen austauschen, können, ja müssen wir ein gutes Stück weit von den Personen absehen und uns den Problemen ihrem Inhalt nach widmen. Wir können und müssen gemeinsam darüber sprechen. Wir können und müssen die Perspektive des Gegenübers mit einbeziehen. Nicht dieser ist dann unser Feind, vielmehr ist unser Feind dann das Problem, das wir zu lösen versuchen und damit zu einem gemeinsamem wird. Lässt man sich darauf ein, entspringt daraus nicht notwendig Eintracht, gleichwohl immerhin gegenseitiges Verständnis.

Setzen wir indessen Personen einfach mit einem Problem gleich, wird jeder Dialog unmöglich. Wollen wir nun das Problem lösen, müssen wir zwangsläufig die Personen, an denen wir es zuvor fest gemacht haben, beseitigen. Inhaltliche Fragen und anderweitige Perspektiven kümmern nicht mehr und dürfen das auch nicht. Denn ließen wir uns auf die Perspektive des Feindes ein, würde uns diese vertraut und hörte auf uns unverständlich zu bleiben. Wofür wir jedoch Verständnis aufbringen, das können wir nicht mehr vorbehaltlos bekämpfen, weil wir um die Gründe wissen. Es läge dann nahe, den Fokus auf Ursachen statt auf Symptome zu richten. Die Symptome aber, die Menschen mit ihrer unerwünschten Haltung, wären dann nicht mehr Feinde, die es auszulöschen gilt, sondern würden in ihrem Sosein nachvollziehbar.

Feindschaft schließt echte Lösungen ebenso aus wie echten Dialog. Allein: das Wissen darum schützt nicht vor der zerstörerischen Logik der Feindschaft, weil man sich ihr nicht entziehen kann, wenn andere sich ihrer bedienen. Niemand ist davor geschützt, von anderen als Feind benannt zu werden. Einmal von anderen zum Feind erklärt, gibt es meist keine Möglichkeit, sich dem Teufelskreis zu entziehen. Man sieht sich dazu gezwungen, sich zu wehren. Im Falle eines tatsächlichen Angriffs bleibt nur noch die Wahl zwischen Verteidigung oder Unterwerfung, also den anderen ebenfalls als Feind zu benennen und gleichermaßen zu bekämpfen oder ihn als Herren zu akzeptieren und sich zu fügen. Die Logik der Feindschaft lässt somit keinen anderen Ausweg als den des Konflikts; und diesen heizen all diejenigen an, die dieser Logik folgen – und das völlig unnötig, sofern sie nicht selbst als Feind benannt worden sind. Wer nicht in einen Konflikt involviert ist, kann und muss sich dieser Logik entziehen, wenn er ihn lösen will. Wer sich anders verhält, ist nicht an einer Lösung interessiert oder möchte vom Konflikt profitieren.

Das Gift der Militanten

All die Politiker, die sich einseitig positionieren, sind nichts weiter als Trittbrettfahrer, im populistischen Windschatten, und nicht wenige unter ihnen sind dies nur, um von Problemen im eigenen Land (bzw. Lager) abzulenken. Die angestachelte Feindseligkeit wahlweise gegen Israelis oder Palästinenser hilft ihnen womöglich kurzfristig, jedoch setzt sie die Logik der Feindschaft in Kraft, die sich danach nicht so ohne Weiteres wieder aufhalten lässt. Sie haben sie zu sich nach Hause getragen. Mit jeder kraftvollen Benennung von Feinden wächst die Wut im eigenen Land und sucht sich, einmal angefacht, bald schon weitere Ziele – d. h. neue Feinde. Die Logik der Feindschaft ist ebenso verlockend wie selbstverstärkend. Ist ihr zu entkommen?

Ständig ist von einem Konflikt zwischen Israelis (oder nicht selten Juden) und Palästinensern die Rede, als wären alle Israelis notwendig Feinde der Palästinenser und umgekehrt alle Palästinenser notwendig Feinde der Israelis. Doch wie überall sonst auch, dürften im Gelobten Land diejenigen Leute in der Mehrheit sein, die in Frieden leben wollen, die sich um die Glaubensansichten und viele andere Eigentümlichkeiten ihrer Nachbarn nicht scheren, so lange, ja so lange von ihnen keine Gefahr ausgeht. Im Frieden leben jedoch, genau das ist im Gelobten Land nicht so einfach möglich. Ständig herrscht ein Gefühl der Bedrohung. Sie geht allerdings bei nur ein wenig genauerer Betrachtung weder von Israelis oder Palästinensern aus.

Die meisten Bewohner des Gelobten Landes sind friedlich. Die Bedrohung geht von denjenigen aus, die sich organisieren, um einen von ihnen benannten Feind zu bekämpfen, und die ihre militante Haltung überall hin tragen und so alle anderen dazu zwingen, sich zu positionieren. Sie teilen alle Menschen nach Freund und Feind ein und lassen allen anderen kaum eine Möglichkeit, sich dieser Einteilung zu entziehen, weil sie mit dieser Einteilung, ob sie wollen oder nicht, zur Bedrohung der Gegenseite geworden sind. Durch die Benennung von Feinden zwingen die Militanten ihre Einteilung, wer für wen eine Bedrohung darstellt, allen anderen auf, einfach indem sich der Feind nicht mehr sicher sein kann, wer militant ist und wer nicht.

Sie sind es, die andere zu Feinden erklären. Sie sind es, die völlig einseitige und selbstgerechte Sichtweisen pflegen. Sie sind es, die aus der Geschichte, an der sie kein Verdienst haben, sondern, vom Schicksal an einen bestimmten Platz geworfen mit großem Furor Stereotypen folgend, jeweils nur herauspicken, was ihnen genehm ist. Sie sind es, die glauben, über Lebensrecht und -wert anderer richten zu können. Sie sind es auch, die eine Vielzahl von Menschen, die in einem Landstrich leben, durch stete Wiederholung von Anfeindungen in zwei unversöhnliche Gruppen gespalten haben. Das Gift der Militanz erfasst alle.

Die Militanten machen alle anderen zu Geißeln ihrer Freund-Feind-Sicht und reden dabei fortwährend von Freiheit. Gleichgültig ob sie die Freiheit für Palästinenser oder für Israelis fordern, meinen sie damit zugleich, dass die jeweilige Gegenseite ihrer Freiheit im Wege steht. Um ihre Freiheit zu erlangen, sind sie bereit, die Freiheit der jeweils anderen zu opfern. Doch was ist das für eine Freiheit, wenn sie abhängt von Zugehörigkeiten? Von Zugehörigkeiten zu Ethnien, zu Religionen oder was auch immer?

Eine solche Freiheit wäre ohne die Gunst zufälliger Geburt nicht zu haben. Freiheit stünde dann nicht allen zu, sondern nur Zugehörigen zu denjenigen, die sich gegen andere durchgesetzt haben, auf deren Kosten sie ausleben, was sie Freiheit nennen. So aber, macht sie uns nicht frei, sondern zwingt uns in die Militanz, macht uns zu Kriegern, die unausweichlich im Dienst zufälliger Zugehörigkeiten stehen. Eine solche Freiheit ist nicht mehr als diejenige des Faustrechts, angewandt auf staatlicher, ethnischer oder religiöser Ebene statt auf individueller. Die Betroffenen sind aber dennoch die Individuen, die für ihre Zugehörigkeit nichts können. Sie haben sie weder verdient noch verschuldet. Zugehörigkeit wäre somit Schicksal und Freiheit (oder eben Unfreiheit) ebenfalls. Doch beides, weder Zugehörigkeit noch Freiheit müssten Schicksal sein. Sie könnten allen offen stehen, wenn, ja wenn wir es nur endlich schafften, die Militanten in ihre Schranken zu weisen. Wenn wir es schafften uns nicht länger von ihnen Zugehörigkeiten aufzwingen zu lassen. Wenn wir endlich frei von unseren Zugehörigkeiten würden.

Die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich währte Jahrzehnte, überwunden wurde sie nicht durch Militanz, sondern durch Dialog und gegenseitiges Verständnis. Profitiert haben davon alle.

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