– gegengelesen –
Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 5)

Ivan Krastev geht davon aus, dass Europäer eher bereit sind, verantwortungslose Politiker zu wählen, weil die EU gegen die Folgen abfedert. Vor dem Hintergrund einer solchen Rückversicherung gäben sie sich eher ihrer „Enttäuschung und Wut“ hin:
„Ein noch bedeutsamerer Effekt basiert auf dem Umstand, dass die Europäische Union als eine Art Sicherheitsnetz dient, das Risikofreudigkeit dämpft (indem es Staaten von einer unverantwortlichen Politik abhält), aber Wählern den Anreiz bietet, verantwortungslose politische Parteien und Politiker zu unterstützen, um dadurch ihrer Enttäuschung und Wut Ausdruck zu verleihen. Weshalb sollten die Polen Angst vor jemandem wie Kaczyński haben, wenn sie doch wissen, dass Brüssel ihn bändigen wird, falls er zu weit geht? Paradoxerweise hat die Verbindung zwischen Europäisierung und Demokratisierung Mitteleuropa zu einem Paradebeispiel für demokratischen Illiberalismus gemacht.“ (S. 85f)
Hinter einer solchen Einschätzung verbergen sich weitreichende Annahmen: Erstens behauptet Krastev damit, die Bürger wählten bewusst Politiker, die sie für ungeeignet halten. Offenbar geht er zugleich nicht nur davon aus, dass andere Politiker geeigneter wären, sondern dass dies die Wähler durchaus auch erkennen. Diese entschieden sich demzufolge gezielt für eine politische Option, die sie eigentlich gar nicht befürworten, um „ihrer Enttäuschung und Wut Ausdruck zu verleihen.“ Obwohl er diese Gefühle explizit benennt, hält Krastev es offenbar dennoch für undenkbar, dass sich dahinter ein tiefer Zweifel an der Eignung etablierter politischer Parteien und ihrer Politiker verbirgt, dass die Enttäuschung also aufgrund bestimmter Erfahrungen begründet sein könnte. Nur wer von den Qualitäten und dem Vorgehen der politisch Verantwortlichen der vergangenen Jahre überzeugt ist, kann das veränderte Wahlverhalten als reinen Protest abtun. Doch dann behandelt man die Wähler so als würden sie wider besseren Wissens sich von unvernünftigem Trotz leiten lassen. Indem man sie derart wie kleine Jungs behandelt, verstärkt man schließlich den abwertenden Effekt noch. Umso mehr etablierte Politiker, Journalisten und Intellektuelle den Bürgern signalisieren, dass sie sie nicht für voll nehmen, während sie sich selbst überlegene Einsicht attestieren, wird der Graben nur tiefer.
Krastevs Einschätzung der psychischen Verfassung bei den Wählern geht noch weiter: Er unterstellt nicht nur, dass die Bürger wider besseren Wissens handeln, sondern geht zudem davon aus, dass sie das nur tun, weil sie darauf vertrauen, dass die EU allzu extreme Auswüchse ohnehin einhegt. Könnten die Politiker tatsächlich unverantwortlich handeln, würden die Wähler davor zurückschrecken, ihnen ihre Stimme zu geben, so die Annahme. Krastev unterstellt hierbei einer inhomogenen Bevölkerung in ihrer Gesamtheit perfide polit-strategische Winkelzüge, wie man sie von eben jenen Politikern gewohnt ist, gegen deren etabliertes Taktieren sich schon seit langem Unmut regt. Solcherlei Strategien sind ein denkbares Vorgehen, wenn man über einen bestimmten Zeitraum Einfluss auf das Geschehen hat, nicht aber wenn man nur einmalig zur Wahl gerufen wird. Deshalb kann Krastev das Verhalten auch lediglich als trotzigen Protest dechiffrieren. Es ist ihm unvorstellbar, dass die Menschen es ernst meinen, dass sie tatsächlich in diesem Ausmaß unzufrieden mit der Situation sind. Um diese Einschätzung zu pflegen, muss er deshalb seinen Blick auf die EU begrenzen und so tun, als gäbe es jenseits von deren Grenzen kein populistisches Wahlverhalten und als hätten andernorts die Wähler nicht längst unverantwortlich weitreichende Entscheidungskompetenzen an Autokraten übertragen. Bei seiner Kritik am mangelnden Verständnis für Eliten innerhalb der EU, vergisst Krastev, wohin das eigentümliche Elitenbewusstsein in Ländern wie Russland, der Türkei oder Venezuela geführt hat.
Kann man der Elite vertrauen?
Folgt man Krastev, liegt die Grund für den Niedergang der politischen Kultur allein bei den Bürgern, die leistungsstarken Eliten ihr Vertrauen entzogen haben, um sich an der liberalen Demokratie zu vergehen, indem sie Populisten zur Macht verhelfen:
„Der eigentliche Reiz der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie nicht nur das Privateigentum und das Recht der politischen Mehrheit, die Regierung zu stellen, sondern auch das Recht der Minderheiten schützt und sicherstellt, dass die Wahlverlierer bei den nächsten Wahlen erneut antreten können und nicht ins Exil oder in den Untergrund gehen müssen, während die Sieger ihren Besitz konfiszieren. Die selten bemerkte Kehrseite für die Wahlgewinner liegt darin, dass die liberale Demokratie keine Chancen auf einen vollständigen oder endgültigen Sieg bietet. […]
Der Reiz populistischer Parteien liegt im Versprechen eines unzweideutigen Sieges. Das gefällt denen, die in der von Liberalen so hochgeschätzten Gewaltenteilung kein Mittel, die Machthabenden zur Verantwortung zu ziehen, sondern ein Alibi für Eliten erblicken, ihre Wahlversprechen zu brechen. Deshalb versuchen an die Macht gelangte Populisten stets, das System der checks and balances abzubauen und unabhängige Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen unter ihre Kontrolle zu bringen.
Populistische und radikale Parteien sind nicht einfach Parteien; sie sind Verfassungsbewegungen. Sie versprechen den Wählern etwas, das in der liberalen Demokratie ausgeschlossen ist: das Gefühl eines Siegs, der es den Mehrheiten – und nicht nur politischen, sondern auch ethnischen und religiösen Mehrheiten – erlaubt, nun zu tun, was ihnen gefällt.“ (S. 88f)
Doch liberale Demokratie lässt keinen letztgültigen Sieg zu, jederzeit können sich die Mehrheitsverhältnisse und damit die Kräfteverhältnisse verändern. Und damit sie das können, müssen alle Bürger über gleiche Rechte und eine gleiche Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. Die liberale Demokratie zielt nicht auf die Ausschaltung des Gegners, sie zielt auf Wettstreit ohne Unterwerfung. Krastev aber unterstellt seinen Mitmenschen, dass es ihnen genau darum geht, dass sie sich durchsetzen, den Sieg an sich reißen und den Gegnern keine Chance auf Umkehr lassen. Er unterstellt ihnen eine machtgierige Gesinnung, wie man sie Tyrannen nachsagt.
Am Prinzip der repräsentativen Demokratie und der durch sie hervorgebrachten Elite hegt Krastev hingegen keinen Zweifel. Kein Wort davon, dass über Jahrzehnte hinweg die Elite davon sprach, dass bestimmte politische Entscheidungen alternativlos seien, während zeitgleich Unternehmen gewaltige Summen in Lobbying investierten. Muss sich der Beobachter da nicht die Frage stellen: Würden Unternehmen so viel Geld aufwenden, wenn Entscheidungen in ihrer Alternativlosigkeit schon feststünden?
Für Krastev scheint es nur die Wahl zwischen blindem Vertrauen in Eliten und verantwortungsloser Hingabe an Populisten zu geben. Die Möglichkeit, dass es weniger verantwortungslose Positionen sind, die die Wähler verführen, als vielmehr die Offenbarung, dass es doch Alternativen gibt, kommt ihm nicht in den Sinn. Könnte es nicht einfach auch sein, dass die repräsentative Demokratie einen Hang zur Homogenisierung und Nivellierung von Entscheidungen hat, dessen die Bürger überdrüssig sind? Fordern die Bürger nicht zurecht von einer Demokratie ein, dass sie selbst darüber bestimmen, welche Entscheidungen getroffen werden?
Bei alldem scheint die undemokratische Arroganz der Meritokratie durch, die ihre Vorrechte aus der Leistungslogik schöpft und deshalb der Bevölkerung das Anrecht auf Mitsprache abspricht. Demokratie erlaubt streng genommen aber jedem das Recht auf politische Teilhabe unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit. Die Stimme des Faulen, des Dumme und des Genies sind gleich viel wert. Umso mehr die Eliten dies in Abrede stellen, desto mehr entfernen sie sich von der demokratischen Idee und öffnen den Populisten das Feld, wenn diese Wahrnehmung ohne Leistung versprechen.
Bumerangeffekt der Leistungslogik
Zugleich spielt das Hervorheben der Leistungslogik den Populisten zusätzlich in die Hände. Denn oft genug erleben gerade diejenigen, die sich nicht durchsetzen konnten, dass es eben nicht die Leistung der anderen war, die ihnen zum Erfolg verholfen hat, sondern Beziehungen, Unaufrichtigkeit, Kapital und glückliche Zufälle erst jenen zu ihrer Position verholfen haben, die sich nun auf ihre Leistungsfähigkeit berufen. Eine Leistungsfähigkeit, die sie dann oft genug nicht unter Beweis stellen. Krastev tut hingegen so, als wären die Meritokraten tatsächlich eine Elite, was es ihnen ermögliche überall auf de Welt zu arbeiten und eben deshalb das Weite zu suchen, sobald es schwierig wird. Damit unterstellt er den gewöhnlichen Bürgern Neid kombiniert mit einer gerechtfertigten Befürchtung. Was aber, wenn die Bürger das kapitalistische Spiel durchschaut und verstanden haben, dass die Erfolgreichen nicht deshalb auch anderswo gefragt sind, weil sie leistungsfähiger sind, sondern weil sie die Gelegenheit bekommen haben, ihre Eignung und Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Oft genug genügt schon, eine Position einmal ausgefüllt zu haben, um wieder ein solche zu erlangen. Mit welchem Erfolg das geschehen ist, spielt oft genug keine Rolle. Das kennt man vom Top-Management ebenso wie aus der Politik. Man kann offensichtlich versagen und bekommt trotzdem ein neues Angebot. Was für die normalen Menschen die alltägliche medienvermittelte Erfahrung ist, wird von Krastev auf Sozialneid reduziert:
„Was die Meritokraten so unerträglich macht, vor allem in den Augen derer, die im sozialen und ökonomischen Konkurrenzkampf nicht die vorderen Reihen erreichen, ist weniger deren akademischer Erfolg als ihre Behauptung, sie seien deshalb erfolgreicher, weil sie härter arbeiteten als andere, besser ausgebildet seien und mehr Prüfungen bestanden hätten, an denen andere gescheitert seien.
In Europa ist die Meritokratie eine Art Söldnerelite, deren Mitglieder sich ganz ähnlich wie Fußballstars verhalten, die ja bekanntlich europaweit zwischen den Fußballclubs gehandelt werden. […] Erfolgreiche holländische Banker gehen nach London, fähige deutsche Bürokraten nach Brüssel. […]
Aber wenn diese Mannschaften zu verlieren beginnen oder die Wirtschaft lahmt, werden sie von ihren Fans rasch fallengelassen. Der Hauptgrund dafür liegt in der Tatsache, dass zwischen den ‚Spielern‘ und ihren Fans außer der Begeisterung über Siege keine zwischenmenschlichen Bande bestehen. […] In den Augen der meritokratischen Eliten ist ihr Erfolg außerhalb ihres Landes ein Beweis für ihre Fähigkeiten. Aber in den Augen vieler anderer ist gerade diese Mobilität ein Grund, ihnen nicht zu vertrauen.“ (S. 105)
Die Popularität der Populisten sieht Krastev hingegen darin, dass sie den Menschen bedingungslose Treue und Wertschätzung entgegenbringen. Die richtige Nationalität genügt. Ohne Zweifel gibt es solch einfältige Menschen. Doch wird deren Zahl nicht rapide angeschwollen sein. Dass die Popularität einer solch einfältigen Position so zugenommen hat, muss sich anders erklären. Und hier sind die Populisten die einzigen, die nicht einen meritokratischen Habitus transportieren. Die Wahl des Populisten erzeugt die Illusion die ganzen aufgeblasenen Parlamentarier und Repräsentanten zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen und es ihnen vermittelt über einen Autokraten zu zeigen. Umso volkstümlicher der Autokrat sich gibt, desto mehr kann sich das Volk mit dessen Entscheidungen identifizieren. Wenn man schon nicht selbst an Entscheidungen beteiligt wird, so hat man damit wenigstens der eingebildeten Elite eins ausgewischt.
„Die Menschen befürchten, dass die Meritokraten in schwierigen Zeiten lieber weggehen als die Kosten eines Bleibens auf sich nehmen werden. Genau darin unterscheiden sich meritokratische von landbesitzenden aristokratischen Eliten, die an ihren Ländereien hängen und sie nicht mitnehmen könnten, falls sie sich davonmachen wollten. Sie unterscheiden sich auch von kommunistischen Eliten, die stets über ein besseres Warenangebot, eine bessere Gesundheitsversorgung und bessere Bildungschancen verfügten, aber genau wie die gewöhnlichen Menschen nicht auswandern konnten.“
„Populisten versprechen den Menschen, sie nicht allein nach ihren Verdiensten zu beurteilen. Sie versprechen Solidarität oder sogar Gerechtigkei. Wo meritokratische Eliten die Gesellschaft als eine Schule begreifen, in der lauter Einserschüler um Stipendien konkurrieren, während die Schulabbrecher auf der Straße kämpfen, verstehen Populisten die Gesellschaft als eine Familie, deren Mitglieder einander nicht nur deshalb unterstützen, weil alle es verdienen, sondern, weil alle etwas gemeinsam haben.“ (S. 106f)
Demokratie ist, wenn’s Ergebnis passt?
Das alles führt dazu, dass Krastev in bester elitärer Manier Volksabstimmungen nicht traut. Wer sich für besser hält, muss zwangsläufig die Auffassung der anderen abqualifizieren. Sobald die Abstimmungsergebnisse nicht im eigenen Sinne ausfallen, kann es in dieser Logik nur daran liegen, dass die Wähler blöd sind. Dass diese sich aber gegen den elitären Gestus wehren, kommt jemandem, der sich offenbar gern zur Elite zählen würde, nicht in den Sinn. Es gab aber durchaus gute Gründe für die Abstimmungsergebnisse und hätte Krastev sie hören wollen, er hätte sie vernommen.
„Wenn niemand die Mitgliedsstaaten hindern kann, über Fragen abzustimmen, die möglicherweise dramatische Auswirkungen auf andere Staaten der Union haben, ist eine explosionsartige Vermehrung nationaler Volksabstimmungen der schnellste Weg, um die Union unregierbar zu machen. Solch eine Explosion könnte sogar einen Bankenrun auslösen, der als Katalysator für ein Auseinanderbrechen der Union wirken könnte. Europa kann keine Union der Volksabstimmungen sein, weil die EU ein Raum für Verhandlungen ist, während Volksabstimmungen das letzte Wort des Volks darstellen und daher weitere Verhandlungen ausschließen. Referenden sind deshalb politische Instrumente, die von europaskeptischen Minderheiten und europapessimistischen Regierungen leicht missbraucht werden können, um die Arbeit der Union zu blockieren. Falls die EU Selbstmord begeht, wird die Waffe dazu höchstwahrscheinlich eine Volksabstimmung oder eine Serie von Volksabstimmungen sein.“ (S. 111f)
„Wie Renzis Referendum eindeutig beweist, sind Volksabstimmungen unzuverlässige Instrumente, wenn dadurch institutionelle Reformen abgesegnet werden sollen. Das holländische Beispiel macht deutlich, wie sie sich einsetzen lassen, um die Union zu paralysieren. Und Orbáns Referendum zeigt, wie eine Volksabstimmung sich für expolizit gegen Brüssel gerichtete Ziele benutzen lässt. Alle drei Arten von Volksabstimmungen sind in der Lage, die politische Dynamik der EU zu bestimmen und einen ausgeprägten Europapessimismus zu fördern, der weit über die Europaskepsis der letzten Jahre hinausgeht.“ (S. 125)
Demokratie für Krastev ist, wenn das Ergebnis passt. Das Problem der EU ist, dass die Entscheidungen sich längst von Entscheidungen über Sachfragen zu solchen über das System und die Machtverhältnisse entwickelt haben.
Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay; Frankfurt am Main 2017.
Siehe auch:

Heribert Nix: Wozu Liberalismus? Struktur, Krise und Perspektiven liberaler Demokratie; UVK 2021.