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Niklas Luhmann: Soziale Systeme (Teil 2)

Wo es Systeme gibt, muss es auch eine zugehörige Umwelt geben. Das ist keine große systemtheoretische Neuigkeit, sondern schlicht logisch unumgänglich. Ungleich kniffliger wird es bei der Frage nach der Grenze zwischen System und Umwelt. Im Alltag hält man diese schnell mal für gegeben. Wir glauben zu wissen, wo ein Gegenstand aufhört und wo ein anderer anfängt: Das vor mir ist ein Hund und das drumherum gehört nicht dazu.
Doch diese Antwort gerät leicht ins Wanken: Gehört das ausgefallene Haar noch zum Hund oder schon zur Umwelt? Und wie ist das, wenn das Haar zwar nicht mehr verwurzelt ist, aber noch im Fell hängt? Meint man darauf noch klare Antworten zu finden, kann man den Schwierigkeitsgrad erhöhen: Warum ist das bei einem Unfall verlorene Hinterbein nicht mehr Hund, der Rest aber schon – und nicht umgekehrt? Wann genau beginnt der Hund nach der Zeugung eigentlich ein Hund zu sein und wann genau hört er damit im Fall des Todes auf? Ist der tote Hund ein Hund und wie steht es mit den Überresten nach einer ordentlichen Bestattung? Und was ist eigentlich mit den Milliarden Darmbakterien? Gehören sie zum Hund oder zu sich selbst?
Man kann zwar versuchen, auf all das im Einzelnen eine Antwort zu finden, kommt dabei aber nicht daran vorbei, dass die Natur nirgends Etiketten aufgeklebt hat, dass sie nirgends Hund draufgeschrieben hat. Die Natur kennt keine Hunde. Nur allzu oft vergisst man im Alltag, dass nicht die Natur, sondern wir Menschen festgelegt haben, was Hund und was nicht Hund ist. So sehr wir uns dabei an in der natürlichen Umwelt vorfindbaren Unterscheidungen zu orientieren suchen, so sind es doch wir, die schlussendlich die Unterscheidungen vornehmen.
Sind meine Worte ein Teil von mir?
Auf diese Problematik stoßen wir auch bei uns selbst: Gehören das Ohrringloch, die schmerzende Schnittwunde, die Farbenblindheit und das Krebsgeschwür zu mir? Was ist mit der Zahnfüllung und dem Herzschrittmacher? Schwieriger macht es noch die Sprache: Gehören meine Worte zu mir, obwohl sie in einer Sprache formuliert sind, die Millionen teilen und ich erst mühsam lernen musste? Und wie verhält sich das erst, wenn ich mit dieser Sprache fremde Gedanken, wie etwa Luhmanns zu reformulieren versuche? Kurzum: Von der Bestimmung der Systemgrenzen hängt einiges ab und das ist beileibe kein rein soziales, sprachliches oder psychologisches Thema, sondern wenn nicht ein allgemein wissenschaftliches, so zumindest ein allgemein systemtheoretisches Problem.
Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat, darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System und Umwelt zu dienen. Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen. In diesem Sinne ist Grenzerhaltung (boundary maintenance) Systemerhaltung. (Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 35)
Ohne Grenze kein System. Das ist klar. Ebenso unbestreitbar steht für Luhmann fest, dass es ohne Grenzen auch keine Selbstreferenz geben kann. So lange sich ein System nicht deutlich von seiner Umwelt abgrenzt, kann es sich auch nicht auf sich selbst beziehen, kann es auf sein Selbst nicht als Entität referenzieren. Zugleich ist die Umwelt nur für dieses System Umwelt. Jedes andere System hat nicht nur eine andere Umwelt, sondern nimmt diese auch anders wahr.
Die Umwelt erhält ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System. (ebd. S. 36)
Man könnte nun formulieren, dass das System seine Grenze und seine Umwelt selbst festlegt. Einer solche Aussage ist nicht zu widersprechen, was aber nicht zur Auffassung verleiten darf, das System wäre darin frei, seine Grenze und damit sich selbst sowie seine Umwelt irgendwo nach Belieben zu ziehen. Das ist nicht der Fall, was am Konzept der Autopoiesis deutlich wird, das Luhmann aus der Biologie heranzieht.
Autopoiesis setzt nicht zwingend voraus, daß es diejenige Art der Operationen, mit denen das System sich selbstreproduziert, in der Umwelt des Systems überhaupt nicht gibt. In der Umwelt lebender Organismen gibt es andere lebende Organismen, in der Umwelt von Bewußtsein anderes Bewußtsein. In beiden Fällen ist der systemeigene Reproduktionsporzeß jedoch nur intern verwendbar. Man kann ihn nicht zur Verknüpfung von System und Umwelt benutzen, also nicht anderes Leben, anderes Bewußtsein gleichsam anzapfen und ins eigene System überführen. […] Bei sozialen Systemen liegt dieser Sachverhalt in doppelter Hinsicht anders: Einerseits gibt es außerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft überhaupt keine Kommunikation. Das System ist das einzige, das diesen Operationstypus verwendet, und ist insofern real-notwendig geschlossen. Andererseits gilt dies für alle anderen sozialen Systeme nicht. (ebd. S. 60f)
Der Umfang von Systemen bestimmt sich durch jene Operationen, über die sie sich selbst reproduzieren. Alle Operationen, die einen gemeinsamen Reproduktionszusammenhang formen, bilden ein System. Dieses teilt mit seiner Umwelt keine gemeinsamen Operationen. Teilweise ist das schon allein deshalb nicht möglich, weil andere Systeme nicht die gleiche Operationsweise teilen. Es kann aber auch mehrere getrennte Systeme mit gleicher Operationsweise geben, deren Operationen keinen Reproduktionszusammenhang bilden und nicht unmittelbar operational verschränkt sind, wofür Lebewesen augenfällige Beispiele sein mögen.
Will man diese operative Abgeschlossenheit der Systeme voneinander nicht aufweichen, dann ergibt sich, dass psychische Abläufe eigene Systeme bilden. Meine Gedanken können immer nur an meine eigenen Gedanken anschließen, sie können selbst nicht sehen, hören, fühlen, riechen oder schmecken und sie können auch nicht selbst sprechen. Schon gar nicht können sie an die Gedanken der anderen unmittelbar anschließen, die jedem außenstehenden stets unzugänglich bleibt. Man kann sie ahnen, mehr aber auch nicht. Kommunikation stellt für Luhmann folgerichtig wiederum ein anderes System dar. Kommunikation kann stets nur an andere Kommunikation anschließen. Ich kann mir zwar denken, was ich sagen möchte und wie ich die Kommunikation beeinflussen möchte, aber schlussendlich muss das nicht glücken und manchmal rutscht einem auch etwas völlig anderes raus und schon nimmt die Kommunikation einen völlig anderen Verlauf. In einer systemtheoretischen Welt sind an einem Gespräch somit immer mindestens drei Systeme beteiligt: zwei psychische und ein kommunikatives.
Niklas Luhmann: Soziale Systeme; Suhrkamp 1984.