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Thomas Hobbes: Leviathan (Teil 3)

Das Streben nach Macht zählt Thomas Hobbes ungewöhnlicherweise zu den Sitten, also „denjenigen Eigenschaften der Menschheit, die das Zusammenleben“ betreffen. Unser aller Leben sei unentwegt davon geprägt. Während er diesen menschlichen Wesenszug für unausweichlich hält, erscheint ihm eine andere Sitte, die auch gemeinhin als solche angesehen wird, entbehrlich. Dass Religion großen Einfluss ausübt, zumal zu seiner Zeit, bestreitet Hobbes nicht, allerdings sieht er darin keinen notwendigen Rahmen für das Zusammenleben. Vielmehr hält er sie für ein Produkt der Unkenntnis natürlicher Zusammenhänge. Die Menschen nähmen Zuflucht bei der Vorstellung unsichtbarer Mächte, um sich unverstandene, furchteinflössende Geschehnisse zu erklären.
„Und diejenigen, welche die natürlichen Ursachen der Dinge wenig oder überhaupt nicht untersuchen, neigen doch dazu, verschiedene Arten von unsichtbaren Mächten anzunehmen und sich selbst zu erdichten. Dies geschieht aus der Furcht, die von der Unkenntnis dessen kommt, was die Macht besitzt, ihnen große Wohltaten zu erweisen oder großen Schaden zuzufügen. Auch fürchten sie ihre eigenen Einbildungen, rufen sie in Notzeiten an und danken ihnen, wenn sich ein erwarteter guter Erfolg einstellt. Dadurch machen sie die Geschöpfe ihrer eigenen Phantasie zu ihren Göttern. Daher kam es auch, daß die Menschen auf Grund der unzählbaren Vielfalt der Vorstellungen in der Welt unzählbare Arten von Göttern geschaffen haben. Und diese Furcht vor unsichtbaren Dingen ist der natürliche Keim dessen, was jedermann bei sich selbst Religion nennt, bei den anderen aber, die diese Macht auf andere Art verehren oder fürchten, Aberglauben.“ (S. 81)
In einer Zeit, in der England zur dominierenden Seemacht aufsteigt, wird die Vielzahl an Religionen, die auf die ganze Welt verstreut sind, unübersehbar. Während viele Europäer gerne auf andere Völker und ihre Sitten herunterblickten und es auch heute noch tun, hat sich Hobbes offenbar auch in deren Lage versetzt und kam zu dem Schluss, dass denen die europäischen Sitten sicherlich ebenso seltsam vorgekommen sein müssen:
„Und in diesen vier Dingen, dem Glauben an Geister, der Unkenntnis zweiter Ursachen, der Verehrung dessen, was man fürchtet und dem Umstand, daß zufällige Dinge für Vorzeichen gehalten werden, liegt der natürliche Keim der Religion. Auf Grund der verschiedenartigen Vorstellungen, Urteile und Leidenschaften der verschiedenen Menschen erwuchsen aus ihm so verschiedenartige Zeremonien, daß die des einen dem anderen meist lächerlich vorkommen.“ (S. 85)
Religion stellt für Hobbes keine verlässliche Basis dar. Was für die einen zum Heiligsten zählt, erscheint den anderen lächerlich – und umgekehrt. Das ergibt den Eindruck der Beliebigkeit und anstelle einer gemeinsamen Basis bieten religiöse Sitten nicht selten Anlass zu Konflikten. Als Grundlage für das gesellschaftliche Zusammenleben fällt Religion damit aus. Weshalb Hobbes Macht ins Zentrum rückt.
Hobbes, Thomas (1966): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates; Frankfurt am Main.