Archiv der Kategorie: gegengelesen

Das Verlangen nach Macht

– gegengelesen –

Thomas Hobbes: Leviathan (Teil 2)

Thomas Hobbes: Leviathan
Thomas Hobbes: Leviathan

Einen, wenn nicht den entscheidenden Ausgangspunkt seiner Überlegungen führt Thomas Hobbes in einem Kapitel über Sitten ein – mit dem Titel: „Von der Verschiedenheit der Sitten“ (Kap. 11). Das ist insofern befremdlich, als es weder um Anstandsregeln noch um Gebräuche geht; noch nicht mal die kulturelle Vielfalt, wie sie im Titel des Kapitels durchklingt, spielt eine tragende Rolle. Vielmehr führt Hobbes ohne große Umschweife eine Eigenschaft ein, die seiner Ansicht nach allen Menschen gemeinsam ist. Ein längeres Zitat vom Beginn des Kapitels illustriert den raschen thematischen Übergang von den Sitten zum menschlichen Verlangen und zugleich dessen Herleitung: Das Verlangen nach Macht weiterlesen

System und Umwelt

 – gegengelesen –

Niklas Luhmann: Soziale Systeme (Teil 2)

Niklas Luhmann: Soziale Systeme
Niklas Luhmann: Soziale Systeme

Wo es Systeme gibt, muss es auch eine zugehörige Umwelt geben. Das ist keine große systemtheoretische Neuigkeit, sondern schlicht logisch unumgänglich. Ungleich kniffliger wird es bei der Frage nach der Grenze zwischen System und Umwelt. Im Alltag hält man diese schnell mal für gegeben. Wir glauben zu wissen, wo ein Gegenstand aufhört und wo ein anderer anfängt: Das vor mir ist ein Hund und das drumherum gehört nicht dazu.

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Kann man der Elite vertrauen?

– gegengelesen –

Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 5)

Ivan Krastev: Europadämmerung
Ivan Krastev: Europadämmerung

Ivan Krastev geht davon aus, dass Europäer eher bereit sind, verantwortungslose Politiker zu wählen, weil die EU gegen die Folgen abfedert. Vor dem Hintergrund einer solchen Rückversicherung gäben sie sich eher ihrer „Enttäuschung und Wut“ hin:

„Ein noch bedeutsamerer Effekt basiert auf dem Umstand, dass die Europäische Union als eine Art Sicherheitsnetz dient, das Risikofreudigkeit dämpft (indem es Staaten von einer unverantwortlichen Politik abhält), aber Wählern den Anreiz bietet, verantwortungslose politische Parteien und Politiker zu unterstützen, um dadurch ihrer Enttäuschung und Wut Ausdruck zu verleihen. Weshalb sollten die Polen Angst vor jemandem wie Kaczyński haben, wenn sie doch wissen, dass Brüssel ihn bändigen wird, falls er zu weit geht? Paradoxerweise hat die Verbindung zwischen Europäisierung und Demokratisierung Mitteleuropa zu einem Paradebeispiel für demokratischen Illiberalismus gemacht.“ (S. 85f)

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Autopoiesis der Organisation

– gegengelesen –

Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung (Teil 2)

Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung
Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung

Wenn man grundsätzlich Wesensannahmen ablehnt, gewinnt die Frage, wodurch sich Organisationen von anderen Systemformen unterscheiden lassen, zusätzlich an Gewicht. Was macht eine Organisation zu einer Organisation? Luhmanns Antwort: die Operationsweise! Alle Organisationen operieren demzufolge auf der Grundlage einer Verkettung gleichartiger Elemente. Das macht ihre Autopoiesis aus: Sie reproduzieren sich kontinuierlich neu, indem sie Element auf Element folgen lassen und eines das andere zur Voraussetzung hat. So wie jedes Computersystem ausschließlich mit elektrischen Signalen und jedes Bewusstsein ausschließlich mit Gedanken, arbeiten soziale Systeme ausschließlich mit Kommunikationen und Organisationen als ein Spezialfall davon ausschließlich mit Entscheidungskommunikation. Autopoiesis der Organisation weiterlesen

Marktwirtschaft oder Solidarität?

– gegengelesen –

Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 4)

Ivan Krastev: Europadämmerung
Ivan Krastev: Europadämmerung

Osteuropäer lehnten den Kosmopolitismus und Multikulturalismus ab, wogegen Westeuropäer beides begrüßten, meint Ivan Krastev. Er sieht hier einen Spalt mitten durch Europa gehen und tut dabei so, als gäbe es im Westen keine Gegenbewegungen, keinen Front National oder Brexit. Statt dessen betont er den Unterschied zwischen Ost und West. Doch verhalten sich die Osteuropäer tatsächlich so anders? Erstaunt es wirklich, dass sie die lange vorenthaltene Reisefreiheit schätzen, um sie zu eben jener Wirtschaftsmigration zu nutzen, die sie anderen verweigern wollen? Reagieren sie damit letztlich nicht wie alle anderen auch?

Sie wollen Vorteile genießen und fürchten Nachteile. Sie verlangen nach Perspektive, ohne aber gleichzeitig das Erreichte riskieren zu wollen. Was soll daran ungewöhnlich sein? Marktwirtschaft oder Solidarität? weiterlesen

Gottes Natur und der Menschen Kunst

– gegengelesen –

Thomas Hobbes: Leviathan (Teil 1)

Thomas Hobbes: Leviathan
Thomas Hobbes: Leviathan

Im Jahr 1651 veröffentlicht Thomas Hobbes sein Buch über den Leviathan. Er hatte es während des Bürgerkriegs verfasst, der in England sieben Jahre lang tobte. Dieser prägte sein Denken, obwohl er ihn nicht leibhaftig erfuhr. Hobbes, der vor dem Krieg auf Seiten des Königs stand, war aus Angst vor politischer Verfolgung nach Frankreich geflohen. Dort verstand er die Vorteile zu nutzen, die Distanz für Analysen bereithält. Auch ohne das Grauen unmittelbar erlebt zu haben, warfen die Schrecken des Bürgerkriegs lange Schatten auf die menschliche Natur. Zumal zeitgleich vom Dreißigjährigen Krieg ebenfalls erschütternde Grausamkeiten berichtet wurden. Viele warfen Hobbes vor, ein düsteres Menschenbild zu vertreten. Doch angesichts des langjährigen Mordens erstaunt viel mehr der Optimismus, von dem der Leviathan getragen wird. Die Einleitung gibt einen Ausblick darauf, welch große Versprechen Hobbes einlösen wollte, schenkte man ihm Gehör. Gottes Natur und der Menschen Kunst weiterlesen

Es gibt Systeme

– gegengelesen –

Niklas Luhmann: Soziale Systeme (Teil 1)

Niklas Luhmann: Soziale Systeme
Niklas Luhmann: Soziale Systeme

Niklas Luhmann beginnt sein theoretisch grundlegendes Werk über Soziale Systeme nach der Einleitung mit der Klarstellung des Ausgangspunkts. Diese Setzung dient einerseits dazu, für eine zirkulär gebaute Theorie einen Einstieg zu wählen, der aufgrund der Zirkularität theoretisch beliebig sein müsste, sicherlich aber großen Einfluss auf die Zugänglichkeit hat. Nicht jeder Einstieg dürfte gleichermaßen nachvollziehbar sein. Es gibt Systeme weiterlesen

Fördert Liberalismus Migration?

– gegengelesen –

Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 3)

Ivan Krastev: Europadämmerung
Ivan Krastev: Europadämmerung

Ivan Krastevs Blick geht über die EU hinaus. Nicht nur innerhalb ihrer Grenzen, sondern auch außerhalb setzt sie seiner Ansicht nach auf eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie und Toleranz. Zweifelsohne würde man aus europäischer Sicht demokratische Tendenzen weltweit begrüßen. Allerdings bildete sie von Beginn an vor allem ein bewusstes Gegengewicht zu den undemokratischen Systemen, wie sie damals auch in Europa noch zahlreich waren. Wenn schon versteht sich die EU nicht als Wette auf eine demokratische Zukunft, sondern als Bollwerk gegen Diktaturen. Fördert Liberalismus Migration? weiterlesen

Unwesen der Organisationen

– gegengelesen –

Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung (Teil 1)

Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung
Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung

Der Begriff System findet breite Anwendung. Man findet ihn heute in allen möglichen Kontexten: im technischen Bereich ebenso wie im politischen oder im sportlichen. Insofern kann es nicht überraschen, dass er auch auf Organisationen angewandt wird. Das mag oftmals unsystematisch geschehen, im Falle der Systemtheorie jedoch darf man davon ausgehen, dass sie sehr genau angeben kann, warum sie Organisationen als Systeme auffasst. Damit allein ist allerdings noch nichts gewonnen, denn die Frage ist, welche Erkenntnisse sich daraus ergeben. Unwesen der Organisationen weiterlesen

Europa – eine hochriskante Wette?

– gegengelesen –

Ivan Krastev: Europadämmerung (Teil 2)

Ivan Krastev: Europadämmerung
Ivan Krastev: Europadämmerung

Ivan Krastev sieht die EU als ein spekulatives Projekt, weil ihr Gelingen von einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung abhängig sei:

„Die Europäische Union ist eine hochriskante Wette darauf, dass die Menschheit sich in Richtung einer demokratischeren und toleranteren Gesellschaft fortentwickeln wird.“ (S. 26)

Man kann eine solche Aussage als Feststellung lesen, aber man kann sich auch kaum des Eindrucks erwehren, dass hier Kritik mitschwingt. Jedenfalls erscheint es wenig ratsam einen Staatenbund auf einer Grundlage zu errichten, die man als unsicher oder gar „hochriskant“ ansieht. Entsprechend könnte man Krastev hier einmal mehr so verstehen, dass er Naivität am Werke sieht.

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